- 241 -Enders, Bernd / Stange-Elbe, Joachim (Hrsg.): Global Village - Global Brain - Global Music 
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der Schreibweise spielten, wird klar, welcher Erlebnisdimensionen wir inzwischen verlustig gegangen sind – und was es umgekehrt aber auch bedeuten könnte, daß nun, wenn auch noch in äußerst bescheidenem Umfang, wieder Alternativen zugelassen sind. Denn erst mit dem Ende des 20. Jahrhunderts, nämlich heute, gibt es in Form der aktuellen Rechtschreibreform wieder zaghafte analoge Ansätze beim Versuch, Zwischentöne zuzulassen. Interessant ist allerdings zu beobachten, daß sich der Streit um das Für und Wider der Reform im Kern als ein Kampf um die Digitalität erweist – Indiz für eine Demontage des Absoluten, und damit für einen Richtungswechsel des Denkens: Sowohl Art als auch Rezeption der gegenwärtigen Rechtschreibreform tragen spürbare Züge ihrer eigenen Dekonstruktion.

Eine Digitalisierung, die in der Textschreibung möglicherweise harmlos und der Materie unter der Voraussetzung, daß die maßgebliche Tradierungsform von Sprache weiterhin die mündliche war, nicht allzu abträglich gewesen sein mag9

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Beispielsweise scheint die deutsche Rechtschreibung sich nicht negativ auf die Dialektvielfalt ausgewirkt zu haben.
, konnte aber für die Musikkultur verhängnisvoll sein. Letztere fand im 19. Jahrhundert zunehmend durch schriftliche Medien Verbreitung in den bürgerlichen Wohnzimmern, wobei klangliche Vorbilder, der damaligen Mediensituation entsprechend, nur selten zur Verfügung standen.

Dies wirkte sich auch auf die Vermittlung der Diastematik aus, die bis heute extreme Merkmale der Digitalisierung aufweist: Tonhöhen werden bis heute fast ausschließlich absolut aufgefaßt10

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Die Solmisation stellt eine hier zu Lande selten praktizierte Ausnahme dar.
und prägen so von Anfang an die Beziehung des Schülers zur Musik – mit teilweise fatalen Folgen. Die Nachteile dieser Methode zeigen sich nicht nur daran, daß die Fähigkeit der Transposition in der abendländischen Musikpraxis kaum vorhanden ist. Im folgenden von E.T.A Hoffmann geschilderten Beispiel ist das digitale Denken gar in der Lage, die musikalischen Neigungen eines Schülers – die sich hier in eben dieser Fähigkeit zur Transposition äußern – zu zerstören. Hoffmann beschrieb in seiner Kreisleriana die folgende Szene, einen Vortrag eines Klavierschülers im Familienkreis in Anwesenheit seines Lehrers:

„Ich setzte mich [...] an den Flügel und hämmerte meine Stückchen frisch darauf los, und mein Vater rief einmal über das andere: ,Das hätte ich nicht gedacht!‘ – Als das Scherzo zu Ende war, sagte der Kantor [sein Klavierlehrer, H. K.] ganz freundlich: ,Das war die schwere Tonart E-dur!‘ und mein Vater wandte sich zu einem Freunde, sprechend: ,Sehen Sie, wie fertig der Junge das schwere E-dur handhabt!‘ – ,Erlauben Sie, Verehrtester‘, erwiderte dieser, ,das war ja F-dur.‘ – ,Mitnichten, mitnichten!‘ sagte der Vater. ,Ei ja doch‘, versetzte der Freund: ,wir wollen es gleich sehen.‘ Beide traten an den Flügel. ,Sehen Sie‘, rief mein Vater triumphierend, indem er auf die vier Kreuze wies. ,Und doch hat der Kleine F-dur gespielt‘, sagte der Freund. – Ich sollte das Stück wiederholen. Ich tat es ganz unbefangen, indem es mir nicht einmal recht deutlich war, worüber sie so ernstlich stritten. Mein Vater sah in die Tasten; kaum hatte ich aber einige Töne gegriffen, als mir des Vaters Hand um die Ohren sauste. ,Vertrackter, dummer Junge!‘ schrie er im höchsten Zorn. Weinend und schreiend lief ich davon, und nun war es mit meinen musikalischen Unterricht auf immer aus.“11

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E.T.A. Hoffmann: Kreisleriana, Stuttgart 1983, S. 99.


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