- 243 -Enders, Bernd / Stange-Elbe, Joachim (Hrsg.): Global Village - Global Brain - Global Music 
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„Merkwürdig und bezeichnend ist es [...], daß man unter diesen ,Unmusikalischen‘ auffallend viele Menschen trifft, die Musik leidenschaftlich lieben und so ein ausgesprochenes Gefühlsleben haben, daß man annehmen sollte, der musikalische Ausdruck entspräche ihrem Wesen am ehesten.“14

14
Jacoby a.a.O., S. 14.

Die Pädagogik hat sich zwar seit Heinrich Jacoby fortentwickelt, jedoch ist gerade in der Musik der digitale Schatten des 19. Jahrhunderts besonders lang. Insofern gelten die von Jacoby geschilderten Probleme noch heute – so berichtet die „Neue Musikzeitung“:

„Wenn man Lehrproben von Hochschulabsolventen hört und sieht, hat man häufig den Eindruck, daß da der gleiche Unterricht abläuft, wie er vor 25, 50 oder 75 Jahren gehalten wurde. Man könnte meinen, im Instrumentalunterricht sei die Zeit in den letzten 100 Jahren stehengeblieben. Nichts zu spüren davon, daß die Kinder und Jugendlichen heute anders sind als vor 50 oder noch vor 20 Jahren.“15

15
Hansjörg Korward: Wer lehrt die Lehrer das Lehren? in: nmz Aug/Sep 1993, S. 17.

Das Scheitern von Musikerziehung im scheinbar unlösbaren Widerspruch zwischen emotionalen Bedürfnissen der Schüler und digitalen Ansprüchen der Lehrer, scheint geradezu wesenstypisch zu sein für die westliche Kultur. Noch heute besteht der Grundkonflikt, daß Musikunterricht vielen Schülern trotz seines eigentlichen Anspruchs nicht in ausreichendem Maß kreativen, analogen Umgang mit Musik vermitteln kann. So steht das Fach Musik auch in der Schule in der Beliebtheitsliste der Schüler ganz hinten: kein Fach außer Religion würde von den Schülern lieber abgeschafft:

Jobst Fricke präzisiert in seinem erwähnten Aufsatz das Verhältnis von analoger zu digitaler Wahrnehmung folgendermaßen. Er schreibt, das rationale Verstehen sei „[. . . ] die digitale Seite, weil es um Kategorisierung und die Einordnung von Begriffen geht. [. . . ] Es gibt aber auch eine emotionale Kommunikation, [. . . ] die analoge Seite, die sowohl in der Sprache als auch in der Musik nachzuweisen ist.“16

16
Fricke a.a.O., S. 24.

Wenn wir diese Zuordnung übernehmen, müssen wir feststellen, daß die begriffliche, die abstrahierende Seite, in unserer Kultur dominiert, was der Tatsache Rechnung trägt, daß digitale Medien, in diesem Fall in schriftlicher Form, unsere Kultur seit mehreren hundert Jahren beherrschen. Das digitale Denken hat hier aber auch die Musik so fest durchdrungen, daß Musik und Musikalität, die auf analoge, auditive Wahrnehmung essentiell angewiesen wären, an den Rand der Gesellschaft geraten sind. Deutliches Indiz dafür ist auch das verbreitete Phänomen der „Unmusikalität“. „Unmusikalisch“ ist ein Un-Begriff, der wohl nur in unserer westlichen Kultur existiert.

Die Krise der abendländischen Musikpädagogik zeigt sich besonders deutlich auch im Instrumentalunterricht. Das folgende Beispiel aus einem aktuellen Interview zum Thema Musik mit einer Studentin kann als Beleg gelten für die von Heinrich Jacoby beobachtete Diskrepanz zwischen subjektiven musikalischen Bedürfnissen und „offizieller“ Musikalität. Die etwa 20-Jährige Studentin wurde nach der Bedeutung der Musik in ihrem Leben gefragt und antwortete:


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