- 240 -Enders, Bernd / Stange-Elbe, Joachim (Hrsg.): Global Village - Global Brain - Global Music 
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allerdings nicht mittels Nullen und Einsen, sondern mit Einsen und Zweien. Auch wenn im durchschnittlichen Klavierunterricht Digitalisierungsphänomene nicht in dieser Extremform vorherrschen, sind sie doch deutlich spürbar. Das laute Zählen im Klavierunterricht (vielleicht in sinnvolleren Größen, dafür aber unter dem Verlust der rationalen Kontrolle über kleinste Einheiten) dürfte jedem geläufig sein. Und jedes Zählen ist ein Digitalisierungsvorgang, unabhängig davon, ob wie hier, 1–2 oder bis 4 gezählt wird. Friedrich Wieck, Vater und Lehrer von Clara Schumann, zählt im folgenden Ausschnitt aus seinem 1853 erschienenen Buch „Clavier und Gesang“ eine Reihe von Dogmen des Klavierspiels auf, die er gerne schon damals überwunden gesehen hätte. Darunter findet sich auch das Zählen:

„Du sollst nicht auswendig spielen, sondern auf die Noten sehen, sonst lernst du nicht vom Blatt lesen.

Du mußt kein Stück spielen, was nicht gehörig beziffert ist, damit du dir keine falsche Fingersetzung angewöhnst.

Du darfst nicht auf die Tasten sehen bei springenden Tönen und Accorden, weil das von den Noten abzieht.

Du mußt hübsch beim Spiel zählen lernen, damit du immer streng im Tact bleibst.

Um auch einmal dem Geist der Zeit Rechnung zu tragen: ,solche und ähnliche Dinge gehören zu meinen wirklich überwundenen Standpunkten;‘ – ich wünsche, daß die Zukunftsmusiker ihre Standpunkte auch so glücklich überwinden mögen.“7

7
Friedrich Wieck: Clavier und Gesang, Leipzig 1853, S. 70.

Wiecks Äußerung zeigt nichts anderes als ein Plädoyer gegen den übermäßigen Einfluß digitalen Denkens auf die Musikerziehung. Was Friedrich Wieck allerdings noch nicht wissen konnte: daß der eigentliche Siegeszug der Digitalisierung erst noch bevorstand: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten sich nämlich alle von Wieck kritisierten Elemente im Klavierunterricht durch, wo sie noch heute im weiten Teilen vorherrschen.8

8
Vgl. Martin Gellrich: Üben mit Lis(z)t, Frauenfeld 1992.
Dies gilt auch für die – ein sprachlich besonders eindrückliches Beispiel – damals aufkommende Tendenz, den Schüler die „gehörige Applicatur“, die Fingersetzung, nicht individuell handhaben und ausprobieren zu lassen, sondern sie ihm von Anfang an vorzuschreiben. Auch in dieser Hinsicht hat sich, wie wir heute wissen, die Digitalisierung durchgesetzt.

Einen geradezu kometenhaften Aufschwung nahm die Digitalisierung des Denkens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in allen Disziplinen. Wie sehr damit – ohne daß es uns heute in der Regel noch bewußt wäre – auch das 20. Jahrhundert digital geprägt ist, zeigt sich auch im Phänomen der Rechtschreibung. In der Textnotation gab es die letzten mehr als 100 Jahre nur „1“ und „0“, richtig und falsch, ebenfalls – wie beim Klavierspiel – ohne Zwischentöne. 1880 wurde der erste Duden veröffentlicht, wonach fortan entschieden wurde, was richtig und was falsch ist. Auch hier gab es etwa 100 Jahre lang nur diese beiden Möglichkeiten. Denken wir aber beispielsweise an Texte aus dem 18. Jahrhundert, in denen bis hin zur Schreibung des eigenen Namens durchaus sinnliche Kategorien eine Rolle bei der Auswahl


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