- 187 -Enders, Bernd / Stange-Elbe, Joachim (Hrsg.): Global Village - Global Brain - Global Music 
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Solche Partiturinterpretation mit elektroakustischen Mitteln ist vor allem bei Aufnahmen der Sechzigerjahre anzutreffen. Häufig werden in diesem Zusammenhang die Opernproduktionen von John Culshaw (Decca)23
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Etwa Richard Strauss’ Salome oder Richard Wagners Ring des Nibelungen, beide unter der musikalischen Leitung von Georg Solti. Culshaw selbst hat sich zu seinem Aufnahmekonzept der sog. Sonic stage geäußert, etwa in seinem Buch Ring Resounding, New York 1967.
genannt, wo „Gruppierungen [verdeutlicht], Stimmungen, Szenenwechsel durch die Veränderung der Akustik [unterstrichen werden].“24
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Ingo Harden, Freiheit lernen: Aufnahmepraxis und Digitalschallplatte, in: Hans-Klaus Jungheinrich (Hg.), Ästhetik der Compact Disc, Kassel u. a. 1985 (Musikalische Zeitfragen 15), S. 71.
In Aufnahmen dieser Richtung kommt der Wille zum Ausdruck, die der elektroakustischen Übertragung eigenen Gestaltungsmittel zur Partiturrealisierung einzusetzen, ohne sich akustisch am Konzert zu orientieren.

Diese Art der Aufnahme scheint jedoch nach 1970 kaum mehr weitergeführt zu werden. Stattdessen zeichnen sich die Einspielungen jetzt in überwiegender Mehrzahl durch stabile Schallquellenortung, räumliche Tiefe und die Wiedergabe der Akustik des Aufnahmeraums aus. Diese Entwicklung zeigt sich in einer vom Autor durchgeführten empirischen Untersuchung25

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Die Untersuchung ist Teil einer in Arbeit befindlichen Dissertation. Zur Methode und zu ersten Ergebnissen vgl. vom Verf., Klangbildanalyse an alten und neuen Musikaufnahmen, in: Tonmeister Informationen 1997/1–2 (Jan./Feb.), S. 16–17.
und spiegelt sich in journalistischen Zeugnissen, die bei Musikaufnahmen eine Ausrichtung auf oberflächlichen Klangeffekt beanstanden. Einige zeitgenössische Kritiker nehmen zu dieser Zeit vor allem stärkere Halligkeit wahr und sehen eine Orientierung an dem „gefährlichen Maßstab des ,Hörgenusses‘“26
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Ulrich Dibelius, Heimliche Verführung durch den „Sound“, in: Hi-Fi-Stereophonie 1977, S. 906.
. So würden diese neueren Aufnahmen den Zugang zur Struktur des Werks verstellen. Zeitlich fällt dieser Prozess, der eine Ausrichtung am Ideal der Natürlichkeit bedeutet, zusammen mit der Durchsetzung von Reineckes Konzept einer Kompensationsästhetik (s. o., S. 5f), deren Ziel die Reproduktion des Konzerterlebnisses ist.

Die Stereofonie hat deutlich gemacht, dass die elektroakustische Musikübertragung über ein gestalterisches Potenzial verfügt, das über das bloße Abbilden der Live-Darbietung weit hinausgeht. Die Ausnutzung dieses Potenzials zur Partiturinterpretation erweist sich aber historisch als vorübergehend. Stattdessen verengt sich die Gestaltungspraxis wieder und orientiert sich erneut am Konzertereignis – die autonome aufnahmetechnische Gestaltung, die nicht den Anspruch der Natürlichkeit erhebt, hat sich als nicht überlebensfähig erwiesen.

Die nächste zentrale Innovation in der Entwicklung der Schallaufzeichnung, die Digitaltechnik, trägt mit weiterer Verbesserung der Aufzeichnungsqualität zur Konsolidierung der Situation bei. Um 1980 wird die digitale Schallspeicherung im Tonstudio eingeführt; 1983 erreicht sie mit der Compact Disc (CD) den Konsumenten. Mit der Digitaltechnik wird die Übertragungsqualität in mehrfacher Hinsicht gesteigert: Digitale Aufzeichnungen weisen praktisch kein Eigenrauschen auf, sind extrem verzerrungsarm und lassen (in der 16-bit-Auflösung der CD) beinahe die doppelte Dynamik der Vinylplatte zu.

Veränderungen wurden aber nicht nur in der technischen Qualität, sondern auch im Klangcharakter wahrgenommen. Digitalaufnahmen wurden als weniger räumlich und präsenter empfunden als analog gespeicherte Aufnahmen; nicht selten


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