Reineckes Beitrag – scheinen heute zum theoretischen Grundstock der
meisten Tonmeister zu gehören.
Klingendes Beispiel für auf diese Weise gestaltete Aufnahmen ist
ein Ausschnitt aus einer Einspielung von Igor Strawinskys Sacre du
printemps19
.
Der Hörer kann hier jedes Instrument detailscharf verfolgen. Zugleich entsteht vor seinen
Ohren (und seinem inneren Auge) ein in die Tiefe ausgedehnter akustischer Raum, in
dem jedes Instrument einen definierten Platz hat. Eine so klare Szenerie, wie sie die
Lautsprecherwiedergabe der Aufnahme erstehen lässt, nimmt kein Zuhörer im
Konzertsaal auf rein akustischem Weg wahr; gleichwohl stellt sie sich ein, wenn er die
Augen zu Hilfe nimmt, und entspricht der
Vorstellung eines im Konzertsaal
musizierenden Ensembles.
Der Auslöser für den Übergang des Klangideals von der Naturtreue zur Natürlichkeit –
dies gilt es sich vor Augen zu halten – war die Verbesserung der Übertragungsqualität
um 1950, in der die Zeitgenossen mit einigem Recht die Ausentwicklung der
Schallaufzeichnungstechnik sahen.
Als nächste wichtige und, wie bereits angedeutet, ästhetisch folgenreiche Innovation
wurde bereits acht Jahre nach der Langspielplatte die Stereofonie eingeführt. Ihr Prinzip
ist die zweikanalige Speicherung und Wiedergabe, die eine richtungsdifferenzierte
Abbildung der Schallquellen erlaubt und damit auch eine umfassendere Abbildung des
Aufnahmeraums ermöglicht. Obwohl man sich im Vorfeld von der Stereofonie vor allem
den Durchbruch zu einer wahrhaft naturgetreuen Übertragung versprochen
hatte,20
- Vgl. Siegfried Mitlacher, Über einige Grundfragen der elektro-akustischen Musikübertragung,
in: Bild und Ton 1955, S. 73: „Sobald die stereophonische Komponente eingesetzt werden kann,
steht also die Erreichung des erstrebten Zieles [sc. der naturgetreuen Reproduktion] immerhin
schon in greifbarer Nähe.“
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zeigte die Praxis zunächst neue Gestaltungsmöglichkeiten. Nach einer kurzen Phase der
Erprobung manifestiert sich in Aufnahmen der Sechzigerjahre die Erfahrung, dass
die stereofone Klangbildgestaltung in das musikalische Geschehen eingreifen
kann.
Ein Beispiel für eine solche elektroakustische Interpretation ist der Anfang des zweiten Satzes
von Hector Berlioz‘ Symphonie fantastique in einer Einspielung unter der Leitung von Leopold
Stokowski21
.
In der Introduktion zum zweiten Satz wird hier die Harfe stark vergrößert abgebildet.
Dickreiter vergleicht dieses Verfahren mit der „Zoomtechnik des Films“: „musikalische
,Großaufnahmen‘ [werden] von einzelnen Instrumentensoli und wichtigen Stimmen
gemacht.“
22
- Michael Dickreiter, Handbuch der Tonstudiotechnik, Bd. 1, München u. a. 1987, S. 339.
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Zur „Großaufnahme“ der Harfe kommt im Klangbeispiel eine Links-Rechts-Gegenüberstellung
zu den tiefen Streichern. Beides zusammen bewirkt, dass die Harfenstimme
dem Streicherpart antiphonal gleichberechtigt erscheint. Die elektroakustische
Gestaltung wirkt sich damit unmittelbar auf die Interpretation der Partitur aus –
in einer Weise, die nicht vereinbar ist mit der Vorstellung eines live erlebten
Konzerts.