LEIPZIG

<14> In Leipzig war ich - wie in Berlin - glücklich, in gute Hände zu kommen und ein Gutteil
repräsentativer Arbeit sehen zu können. Ich nahm von Berlin eine Empfehlung an Dr.Rust mit,
dem Übungsleiter des berühmten Thomanerchores, aber er schlug mir einen Besuch seines
Chores aus. Kürzlich war Schuljahrswechsel und er sagte, ich würde den Chor nicht im besten
Zustand sehen.

Das Königliche Gymnasium.

Am Königl. Gymnasium (eine Höhere Schule für Jungen), fand ich im Musikraum einen Chor
von 50 Schülern vor. Alle Stimmen waren vorhanden, und der Lehrer saß auf einem Podium am
Flügel. Dieser Chor besteht aus den besten Stimmen der Schule und probt außerhalb der
normalen Schulzeit. Daneben hat jeder Junge in der Schule zwei Wochenstunden Gesang. Der
Chor arbeitete an einer einigermaßen schwierigen kontrapunktischen Motette, und die
Wiedergabe wäre erfreulich gewesen, hätte der Lehrer nicht das Schreien erlaubt. Tatsächlich
war der Klang sehr heiser. Ich bat den Lehrer mir zu zeigen, wie er ein neues Stück einführte.
Dieses ist - nebenbei gesagt - ein gutes Verfahren, wenn man davon ausgehen kann, daß ein
Blattsinge-Test abgelehnt würde. Ein einfacher homophoner vierstimmiger Satz wurde
ausgewählt. Sopran und Alt wurden zuerst vorgenommen, sehr langsam, während das Klavier
die Töne im voraus anschlug. Dann sang der ganze Chor (S.C.T.B.) seine Stimmen zusammen,
wobei auf dem Klavier jeder Akkord einen halben Schlag im voraus angeschlagen wurde. Es
wurde gut auf den Ausdruck geachtet, aber ich kam zu dem Schluß, daß die Fähigkeit des
Blattsingens gering war. Wie bemerkenswert ist das musikalische Gedächtnis der Kinder! Ich
sah, wie bei den fugierten Stücken mehrere Jungen mutig lossangen und die Einsätze sehr sicher
angingen, ohne überhaupt einen Blick in das Buch zu tun, das sie in der Hand hatten.