Das Graue Kloster.

Das Berliner Graue Kloster ist ein bekanntes Gymnasium, d.h. eine höhere Jungenschule.
Bismarck war hier Schüler (1830-1832), und in der Halle steht seine Büste. Das Gebäude
steht größtenteils noch so, wie es die Mönche verlassen haben, und der Raum, in dem
gesungen wird, ist mit gotischen Bögen überwölbt, die den Geist des Mittelalters atmen. Herr
Bellermann, der diensterprobte Musiklehrer, ist ein reiner und hochherziger klassischer
Philologe. Was ich hier hörte, war sicher das beste, was mir von der Berliner Schulmusik zu
Ohren kam. Mein erster Besuch war morgens um acht Uhr, als eine Anfängerklasse dabei war,
einstimmig Choräle [*] mit Klavierbegleitung zu singen. Am gleichen Tage zwischen vier und
fünf Uhr hörte ich den vollen Chor von 130 Jungen im Alter von 10 bis 18 Jahren. Es waren
um die 20 Tenöre und 30 Bässe, einige noch etwas rauh, aber sie bildeten zusammen mit den
kleineren Jungen einen vorzüglichen Chor. Diese Jungen, so erfuhr ich, singen selten anderes als
geistliche Musik, und das von allerhöchster Qualität. Mit welch liebender Hand schloß Herr
Bellermann seinen Notenschrank auf, um mir den reichen Schatz an Motetten von Orlando di
Lasso, Palestrina und einer Unzahl anderer zu zeigen! Hier war Musik als Ohrenkitzel nicht
erlaubt. Das Singen ist mit den anderen Fächern koordiniert. Es werden nur alte Sprachen
gelehrt, warum nicht auch die entsprechende Musik? Die Jungen müssen diese Schule von
edler Musik durchdrungen verlassen - und voller Hochachtung für all das Große, Tiefe und
Wahrhaftige in der Kunst. Natürlicherweise gehören zu Herrn Bellermanns Marotten die vier
alten Schlüssel. Er ist in die Niederungen einer Zeit geraten, die die Oberstimmen im
Violinschlüssel notiert! Wenn er eine Motette oder einen Chorsatz herausgibt, muß er sich an
die modernen Gebräuche anpassen; aber all die Manuskriptbücher und Einzelstimmen, die die
Jungen benutzen, sind in richtigen C-Schlüsseln notiert: Sopran, Alt und Tenor.
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[*] Curwen läßt "Choräle" unübersetzt.