- 9 - Dieter Hildebrandt, Piano, piano!
»Es ist immer Winter vor dem Klavier.« Es ist immer Winter vor dem Klavier? Bei allem Nimbus, der ihm im Lauf des 20. Jahrhunderts abhanden gekommen sein mag - einen Ehrentitel hat es doch dazugewonnen, der, erst kürzlich geprägt, das ästhetische Tohuwabohu der Epoche umfaßt. Das gewissermaßen (von jeglicher Norm und aller Kulturborniertheit) erlösende Wort heißt: crossover. Crossover meint die »Vermengung von eigentlich unterschiedlichen oder gar gegensätzlichen Stilen«. Das Klavier ist zum Elementarinstrument des crossover geworden. Ja, es ist es schon gewesen, als es diesen Betriff noch nicht gab. Die Klaviatur ist Spielplatz für alle Stile und Zeiten, für die Schnulze wie den Schönberg, den Klimperer wie den Kissin, den Kanon wie den Karneval. Das Klavier bleibt die instrumentgewordene Utopie für alle, denn es gilt der wunderbare Satz des Filmemachers Wolfgang Becker: »Klavierspielen macht ja glücklich - insbesondere, wenn man es nicht kann und keiner zuhört.« Kommen wir noch einmal auf die Szene vom Anfang zurück, auf das Klavier am Strand. Dieses Film-Piano aus dem »Piano«-Film von 1993 hatte ja noch ein Schicksal. Das scheinbar unverrückbare Strandgut wurde doch noch in den Dschungel geschleppt (in das Haus des falschen Mannes - der aber der richtige war -, der sich die Tasten durch ein anderes Tasten, durch Streicheleinheiten, abgewinnen ließ); aber ganz am Ende lag da wieder der Strand, und das Piano war, schwankend, auf ein kleines Boot verstaut. Wenige Ruderstöße genügten, und schon ging es auf Nimmerwiedersehen über Bord. Nur: der Untergang war nichts anderes als Auferstehungsarbeit. Die Kinokatastrophe bewirkte Epiphanie. Die Versunkenheit wurde zur pathetischen Empore. Die Botschaft: Das Klavier bleibt ein stets zu bergender Schatz. ------------------------ aus Dieter Hildebrandt: Piano, piano! Der Roman des Klaviers im 20. Jahrhundert mit freundlicher Genehmigung des Verlags Carl Hanser München - Wien 2000, S. 9-18 © 2000 Carl Hanser Verlag, ISBN 3-446-19935-7, DM 39,80
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