- 96 -Wolff, Harry: Musikmarkt und Medien unter dem Aspekt des technologischen Wandels  
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verteilen. Ich denke, daß die Aussagen von Woldt und Reetze hinsichtlich des Senders MTV-Europe zu einem großen Teil auf die 1989 noch eher geringe Anzahl von verkabelten Haushalten zurückzuführen sind; im September 1989 waren es 5,85 Mio. Haushalte (vgl. ebd., 593). Ein weiterer Grund für die damals vielleicht noch geringe Popularität von MTV dürfte darin zu sehen sein, daß das neue Konzept – MTV-Europe ging erst im Sommer 1987 auf Sendung – eine gewisse Anlaufzeit benötigte und der Sender englischsprachig ist. Wäre das Konzept von Videoclipkanälen völlig erfolglos und ihre Bedeutung für den Musikmarkt gering, erscheint es fraglich, ob Plattenfirmen nach Reetze 50.000 bis 150.000 DM in Deutschland bzw. bis zu 125.000 Dollar in den USA für die Produktion eines Videoclips ausgeben würden. Weiterhin scheint mir die Tatsache, daß es seit 1993 (VIVA) bzw. 1995 (VH-1, VIVA 2) weitere Sender gibt, die primär Videoclips senden, für den Erfolg dieses noch relativ neuen Mediums zu sprechen.

Nach Wicke stellt das Musikvideo nicht nur ein Popularisierungsinstrument für Musik dar, mit dem zur klanglichen eine visuelle Ebene hinzukommt, sondern es läßt die Musikentwicklung in neue soziale, ökonomische und kulturelle Zusammenhänge geraten. So seien Kabelfernsehprojekte der Größenordnung von MTV mit hohem Kapitalaufwand verbunden, woraus eine ökonomische Logik resultiere, »die finanziell voll und ganz von der Konsumgüterwerbung abhängig ist« (Wicke 1992, 472). Dieser Umstand habe eine Verschiebung des sozialen Koordinatensystems der Musikentwicklung bewirkt: so orientiere sich die Musikindustrie nicht mehr an der Altersgruppe der 14–20jährigen, innerhalb derer die Arbeiterjugendlichen die größte soziale Gruppe ausmachten, sondern an den Musikbedürfnissen der 18–30jährigen, die vor allem den sozialen Mittelschichten entstammten. Der ausschlaggebende Grund hierfür liege in der Konsumfreudigkeit und finanziellen Potenz dieser Bevölkerungsgruppe, nach der die von der Konsumgüterindustrie abhängigen Musikvideo-Kabelprogramme ihre Programmgestaltung ausrichten. Diese Neuorientierung der Tonträgerfirmen habe in der Folge anderen kulturellen Wertmustern zu Dominanz über die Musikentwicklung verholfen. »An die Stelle der Konstruktion einer sozial spezifischen kulturellen Identität, wie sie für die jugendlichen Fankulturen Rock’n Roll und Rockmusik charakteristisch war, trat jetzt ein körperbezogenes Lustprinzip, das an explosiven Tanzrhythmen und synthetischen Klangstereotypen festgemacht war. Nicht zuletzt kam dieser Trend einer visuellen Präsentation im Musikvideo optimal entgegen« (ebd.).

Nach Wicke wich überdies die Fundierung des Sinngehaltes der Songs an Persönlichkeit und Biographie des Musikers der Fundierung im Ritual der Berühmtheit, im Starkult: einem Medienkonstrukt, das von der Persönlichkeit und Entwicklung des Musikers unabhängig ist, ihn aber trotzdem im Mittelpunkt behält. »Die Personalisierung des Musizierens, die bis dahin die populären Musikformen getragen hatte, ist durch eine mediale Inszenierung von Musik ersetzt worden, die auf das nahezu unerschöpfliche Reservoir vorangegangener Medienerfahrung zurückgreifen kann. Das starre Referenzsystem, in das die populären Musikformen eingebettet waren, löste sich hier in der endlosen Vielfalt der Bildassoziationen auf« (ebd.).

Dies habe in der Folge den Weg für die Kombination und Synthese unterschiedlichster Musikformen frei gemacht; die hieraus entstandene »globale Musikpraxis«


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