- 41 -Sydow, Kurt: Musikpädagogische Beiträge aus drei Jahrzehnten 
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Kyrie und im Benedicamus ereignet sich rufendes Singen. Betendes Singen verbindet sich mit geneigter Haltung, mit Horchen, mit Stille-Werden. Lobgesänge schallen weit! Dabei streckt sich der Körper, der Kopf ist leicht angehoben, und durch den geistigen Impuls stellt sich das Schallrohr auf Rufen ein und weitet sich aus. Wie könnte man die Jubelgesänge "Christi ist erstanden" oder "Erstanden ist der heilige Christ" anders singen und zum Klingen bringen, als in dieser dem Rufen angemessenen Körperhaltung?

Im Sinne eines Hilferufes singt es im geistlichen Landsknechtlied: "Unser liebe Fraue vom kalten Brunnen, bescher uns armen Landsknecht eine warme Sunnen!" 12 Eindringlich heißt es in der Anrufung im St. Michaelslied: "Unüberwindlich starker Held, Sankt Michael! Komm uns zu Hilf, zieh mit zu Feld! Hilf uns hie kämpfen, die Feinde dämpfen, Sankt Michael!" 13 Wortsinn und Melodie fordern in beiden Fällen mehr als nur ein Vor-sich-Hinsingen. Im Nachvollzug des Gemeinten muß das Gemeinte selbst vollziehen.

Mit dem singenden Rufen und dem rufenden Singen verbindet sich immer ein Raumgefühl: Weite und Wälder, Tal und Bergeshöhe, Insel und Meer, Tunnel und Halle, Kapelle, Kirche und Kathedrale, Straße, Bahnhof und Hinterhof. In diesen Räumen hören wir die Juchzer und Jodler, die Hirtenrufe aller Varianten, die Anrufung in Lob- und Jubelgesängen und das Ausrufen. Wenn für unser Singen das Räumliche nicht vorhanden ist, kann es in die Vorstellung mit hineingenommen werden. Wo das nicht geschieht, bleibt alles Musikalische, das Rufcharakter hat, tot.

Wie oft fehlt z.B. beim Singen des Kanons "Herr bleibe bei uns..." von Albert Thate14 der Anrufungscharakter. Was hinter den Worten stehen kann, erfährt man mit erschreckender Deutlichkeit in Ernst Peppings Passionsbericht des Matthäus, in dem dieser Satz musikalisch zu einem Aufschrei gesteigert ist. Auch Thates kleiner Kanon läßt eine andere Auffassung zu als nur ein sanftes Singen im weichen Klangbett. - Der Kanon von Heinrich Spitta nach der Choralzeile "Wachet auf ruft uns die Stimme" 15 steigt dreimal spiralenartig von Zeile zu Zeile in Dreiklangmelodik in die Höhe (Dieser Anruf hat keine fallende Melodik!), um in dem Schlußruf "Wachet auf"! zu enden. Der

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