- 206 -Sydow, Kurt: Musikpädagogische Beiträge aus drei Jahrzehnten 
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Als ich in der Musikhochschule im nächsten Semester wieder in Berlin war, war im Seminar für Musikerziehung dann eine Übung "Gegenwartsfragen der Musikerziehung" von Götsch angesetzt, und ich bin dort hingegangen, um planmäßig zu stören. Das gelang mir auch in der ersten Übung, so daß Götsch abbrach und sagte, es wäre niemand genötigt, zu bleiben.

Dann machte er die Wendung am Schluß. Er forderte auf, daß in der nächsten Seminarübung ein Kanon eingesungen werden solle. Er zeigte auf mich und beauftragte mich: ich möge das tun. Er gab mir den Kanonband von Jöde, und wer das nicht gewöhnt ist, damit umzugehen, für den ist das eine schwierige Angelegenheit; diese einzeiligen Melodien recht zu verstehen, die erst im Kanon gesungen erblühen.

Ich suchte mir also etwas aus, was ich als besonders, na sagen wir, lächerlich fand. Es war der Kanon von Röttgen "Eine Harfe bin ich in tausend Hauch und zerstückle mich - das Lied ist aus".

Ich sang also beim nächsten Mal dieses Stück ein. Anschließend fand eine Diskussion statt. Bei dieser Diskussion meldete auch ich mich zu Wort und sage, daß ich dieses Stück außerordentlich dumm fände. Als Götsch mir dann bestätigte, daß es ihm auch so ginge, hatten wir uns wiederum angenähert.

Von da an begann ich wacher hinzuhören. Götsch gründete bald darauf einen kleinen Singkreis aus Studenten. Zwar kam dabei nicht sehr viel heraus, aber es waren doch Zusammenkünfte, die auch dazu führten, daß er einmal nach einem Geiger für eine Musik fragte, die er während einer Englandfahrt aufzuführen beabsichtigte. Ich meldete mich dazu. Und es war für mich wieder bewegend, von Götsch einen Brief zu bekommen, wie ich ihn in dieser Art bisher nicht bekommen hatte. Götsch schrieb nicht wie üblich "Sehr geehrter Herr" oder "Sehr geehrter Herr Sydow", er schrieb "Lieber Kurt Sydow". Eine solche persönliche Ansprache war mir vollkommen fremd, und sein Brief begann mit den Worten "Schwankend ist das Schicksal". Dieser Brief hat mich bewegt.

Da aus dieser Möglichkeit, nach England zu kommen, nichts wurde, bin ich fast aus Trotz, aber auch aus Gelegenheit mit einem Freund per Rad nach England gefahren, und zwar zu einem Musikfest des Instrumentenbauers Arnold Dolmetsch. Das Musikfest, das er zusammen mit seiner Familie durchführte, galt der Musik für alte


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