- 63 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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5. Zum "Lied von der Erde" schreibt Adorno: "China wird zum Stilisierungsprinzip. ... Das uneigentliche, überaus diskret nur skizzierte China spielt eine ähnliche Rolle wie beim früheren (Mahler) das Volkslied: Pseudomorphose, die sich nicht wörtlich nimmt, sondern durch Uneigentlichkeit beredt wird. Indem er (Mahler) aber das österreichische Volkslied durch Ferne, einen als Stilmittel approbierten Osten ersetzt, entschlägt er sich der Hoffnung auf kollektive Deckung des Eigenen." 54) Das trifft nur zum Teil; der Rückgriff auf Volksmusik ist auch im "Lied von der Erde" keineswegs aufgegeben, auf der Ebene des Materials ist das Spätwerk vom übrigen Oeuvre Mahlers nicht so weit entfernt, wie Adorno glauben machen möchte. Im "Abschied", dem letzten Satz des "Lieds von der Erde", wird der Singstimme z.B. zum Text "Still ist mein Herz und harret seiner Stunde" eine Melodie zugewiesen, die unverkennbar aus der Sphäre des Küchenlieds stammt (Bsp. 5a) - als wolle die Musik bekräftigen, was unmittelbar davor der Text aussagt: "Ich wandle nach der Heimat, meiner Stätte! Ich werde niemals in die Ferne schweifen." Harmonik und Instrumentation sind freilich von der Naivität und Larmoyanz der Küchenliedsphäre weit entfernt; Zitat ist allein die kurze Melodie der Singstimme, ohne daß der musikalische Satz insgesamt von dessen Herkunft gefärbt würde. Daß die Gesangsmelodie übrigens als dem Bereich des Trivialliedes zugehörig so klar zu identifizieren ist, hat mit einer fast makabren Ironie der Geschichte zu tun: das "Horst-Wessel-Lied" der Nazis, das nachweislich als Kontrafaktur eines Küchenliedes zu seiner Melodie kam, weist deutliche Ähnlichkeiten zu Mahlers Melodie auf - was wohl nur so sich erklären läßt, daß Mahler aus derselben Quelle schöpfte, der später die Nationalsozialisten die Melodie ihres Kampfliedes entnahmen.


6. "Die Ländler-Hauptgruppe (des zweiten Satzes der Neunten Symphonie) ist wohl der erste exemplarische Fall musikalischer Montage, Strawinsky vorwegnehmend ebenso durch die zitatenhaften Themen wie durch ihre Dekomposition und schiefe Wiedervereinigung. Der Ton solcher Montage indessen ist keiner von Parodie sondern eher ... eines Totentanzes, ... Die Trümmer der Themen versammeln sich zu beschädigtem Nachleben, beginnen zu wimmeln..." 55) Zu Recht beschreibt Adorno das Kompositionsverfahren, das dem Scherzo der Neunten Symphonie zugrundeliegt, als Montage. Er will die Anwendung des Montagebegriffs jedoch eingeschränkt wissen: "Klebebild aus deformierten Floskeln" sei ausschließlich die Hauptgruppe; "sie stellt das dinghaft Verhärtete nackt an den Pranger". Der Satz insgesamt dagegen "hält sich dynamisch, ergötzt sich nicht an der bloßen Montage von sinnlos Verhärtetem, Unbeweglichem, sondern schwemmt es mit in der symphonischen Zeit und macht es dadurch dem Subjekt doch wieder kommensurabel. Der Schauer solcher Musikanschauung ward vom surrealistischen Strawinsky verdrängt: erst an der symphonischen Zeut wird das Grauen dessen lesbar, was die Zeit verloren hat wie Peter Schlemihl den Schatten." 56) Vom Begriff der Montage hält Adorno deutlich Distanz; fast nimmt die zitierte Passage Mahler in Schutz vor dem "Vorwurf", diese Technik gebraucht zu haben. Adornos Reserve gegenüber dem Montageprinzip und seine daraus resultierende Zurückhaltung bei der Anwendung des Begriffs auf Mahlers Musik wird verständlicher, liest man seine Bemerkungen dazu in der "Ästhetischen Theorie": "Montage ... schaltet mit Elementen der Wirklichkeit des unangefochten gesunden Menschen-


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