- 55 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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3. Das Adagietto der Fünften Symphonie erscheint Adorno im mehrfacher Hinsicht problematisch: "Wo der junge Mahler in ungebrochenem Österreichisch wohlig zu komponieren vorhat, wie im Andante der Zweiten Symphonie, nähert er sich dem Gefälligen, später im Adagietto der kulinarischen Sentimentalität." 52) Im Zusammenhang dieser Bemerkung geht es um musikalische Charaktere der Freude und des Glücks; das Adagietto wird hier aufgefaßt als musikalische Gestalt für heimatliche Geborgenheit, für friedvolles Glück, dem Dauer verliehen sei. Solche Geborgenheit, solches Glück kann in der Realität nach Adornos Überzeugung dem Subjekt nicht zuteil werden, es sei denn als Phantasmagorie - als Ausdruck realen Friedens wäre das Adagietto also unwahr; als Antizipation des Utopischen verstieße es gegen das "Bildverbot", das Adorno über den versöhnten Zustand der Wirklichkeit verhängt sieht. Beides muß Adornos Unbehagen an dem Satz wecken. Platt gesagt: das Adagietto ist zu schön, um wahr zu sein - es "grenzt, trotz bedeutender Konzeption innerhalb des Ganzen als Einzelstück, durch den einschmeichelnden Klang, ans Genrehafte ..." 53) Daß das Adagietto keineswegs in "ungebrochenem Österreichisch" wohlig schwelgt, sondern viel eher auf der Suche ist nach der Geborgenheit, die der heimatliche Dialekt verspricht, ist Adorno offenbar entgangen: die emphatische Schönheit, die von der Melodik, der Harmonik und der Instrumentation des Adagiettos evoziert wird, stellt die Komposition selbst ständig in Frage auf der Ebene der Tempi und der Dynamik. Das extrem langsame Tempo schon zu Beginn überdehnt die Kantilene: der Atem reicht meist nicht für mehr als einen Takt, die Melodie zerfällt, statt frei auszuschwingen, in kleine kurzatmige Partikel und erhält dadurch einen eigenartig belasteten, angestrengten Charakter. (Bsp. 3a) Die Dynamik ist vielfach deutlich gegen die Melodik und die Metrik komponiert: immer wieder steigert sie sich auf den melodischen Höhepunkt oder den metrischen Akzent hin, um am Ziel ins piano oder pianissimo umzuschlagen. (Bsp. 3b) Der Streicherklang ist stellenweise abgedunkelt dadurch, daß nach Mahlers Vorschrift hochgelegene Passagen auf tiefen Saiten in hoher Lage zu spielen sind. Daß die emphatische Schönheit nicht aus dem heimatlichen Idiom ohne Schwierigkeit "zitiert" werden kann, daß sie nicht "einfach da" ist, sondern ebenso mühevoll wie vergeblich im Verlauf des Satzes erst beschworen wird, sei es als verlorene oder als noch unerreichbare, zeigt sich vielleicht am deutlichsten kurz vor Schluß (Bsp. 3c, bei Ziffer 4): die Cellokantilene mündet in den Einklang im dreifachen piano; das schon langsame Tempo wird noch weiter verzögert; als fehle ihr die Kraft zur Fortsetzung, steht die Musik fast still - vorzeitig: noch ehe sie harmonisch ans Ziel gelangt wäre oder jene emphatische Schönheit auch nur einmal ungetrübt entfaltet hätte -, um dann "zögernd" (so Mahlers Vortragsbezeichnung) doch noch neu anzusetzen: in nochmals verlangsamtem Tempo löst sich allmählich im pianissimo die Melodie der ersten Violinen aus dem Einklang, "mit innigster Empfindung" vorzutragen (ob der Anklang an den zweiten Satz von Beethovens Klaviersonate op. 109 beabsichtigt sein mag oder nicht, muß offen bleiben). Sie führt in die große Steigerung zum Schlußhöhepunkt hin, in dem sich die Spannung , die im Verlauf des Satzes aufgestaut wurde, endlich löst. Wie groß diese Spannung ist läßt sich daran ermessen, daß die Dynamik innerhalb von nur vier Takten vom pianissimo zum fortissimo anwächst und die Oberstimmen extreme melodische Sprünge ausführen (in Takt 93/94: in der ersten Violine von fis 1


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