- 54 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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symphonie so traurig wie die Spätwerke. Erstirbt sie nach den verheißenden Worten `daß alles für Freuden erwacht', so weiß keiner, ob sie nicht für immer einschläft. Die Phantasmagorie der transzendenten Landschaft wird von ihr gesetzt und negiert zugleich. Unerreichbar bleibt Freude, und keine Transzendenz ist übrig als die von Sehnsucht." 50)


 Den Text des "Wunderhorn"-Gedichts, von dem die Interpretation des Sinfoniesatzes ausgeht, zeiht Adorno - im Ton übrigens eigenartig zwischen Enttäuschung und Vorwurf - des falschen Bewußtseins: das Paradies, das er zeigte, sei keins - der unversöhnte Zustand von Natur und Gesellschaft sei hier nicht aufgehoben, Blut und Gewalt nicht abgeschafft; die Sinfonie male das Paradies bäuerlich-anthropomorph aus, um letztlich zu zeigen, daß es nicht sei. Das trifft zwar zu, aber das Ganze ist es nicht. Die plastische Schilderung des Paradieses ist zunächst ein Gegenbild zur realen gesellschaftlichen Situation derer, die hier "wir" sagen, der Unterdrückten und Armen, die nicht nur seelisch, sondern auch körperlich Not leiden und denen daher schon die Befreiung vom Mangel Seeligkeit bedeutet. Das Wunschbild, das der Text so liebevoll entwirft, mag sich am Leben der feudalen Oberschicht in vorindustrieller Zeit orientieren - aus der Sicht "von unten". Das "englische Leben" ist frei von Arbeit - für die täglichen Bedürfnisse sorgen die Heiligen, als Metzger, Köchin, Fischer und Bäcker; es ist frei von Hunger - Wein und Speisen im überfluß stehen den "Himmelsbewohnern" zur freien Verfügung, ohne Einschränkungen durch herrschaftliche Jagd- und Fischereiprivilegien oder durch ein Schloß am Tor des Obstgartens; schließlich ist es auch frei von den Zwängen einer lustfeindlichen Moral und mit Vergnügungen ausgefüllt - die heilige Cäcilia spielt den Jungfrauen der gestrengen heiligen Ursula zum Tanz auf, und "die englischen Stimmen / ermuntern die Sinnen / daß alles für Freuden erwacht". Indem der Text dies heitere, sorglose Leben in den fernen Himmel verlegt, sagt er, daß für die Armen auf Erden das Gegenteil wahr ist; in ihrem ins Nirgendwo versinkenden, irrealen Schluß vollzieht die Musik diese Intention des Textes mit und steigert sie, indem sie ihr eine Geste stiller Trauer hinzufügt. Der Text - und mit ihm die Sinfonie - meldet an, daß der Zustand ohne materielle Not, ohne Herrschaft von Menschen über Menschen und ohne Unterdrückung sinnlicher Bedürfnisse nicht ist - um einzufordern, daß er werde: nicht in der jenseitigen-transzendenten Landschaft, die Adorno beschwört, sondern diesseits, in der Wirklichkeit. Die musikalische Komposition ergreift für das Diesseits Partei: zur Textzeile "Ganze Schüsseln voll sind uns bereit" steigert sich die Dynamik der Singstimme zum ersten Mal zum Forte; der entbehrte und ersehnte überfluß wird emphatisch vorgestellt. Als realistisch zeigen sich Text und Vertonung darin, daß sie die Aufhebung materieller Not nicht gleichsetzen mit der Versöhnung von Natur und Gesellschaft, daß sie den Fortbestand von Gewalt und Ausbeutung der Natur gegenüber nicht verleugnen. "Ehre widerfährt der unterdrückten Natur einzig dadurch, daß Mahler sie nirgends supponiert, als wäre sie schon da; daß er nirgends ihre Surrogate feiert." 51) heißt es bei Adorno zum Thema Naturbeherrschung - doch leider ist dieser Satz nicht auf die Vierte Symphonie gemünzt.


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