- 23 -Sonntag, Brunhilde (Hrsg.): Adorno in seinen musikalischen Schriften 
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So sehr aber das gewaltsame Durchbrechen einer verhängnisvollen Rechtsordnung auf den ersten Blick als Parabel einer Revolution gegen den Staat erscheinen mag, so prekär ist es andererseits, Siegfried aus dem gesamten Handlungszusammenhang heraus an der Rolle eines "allegorischen Repräsentanten" der revolutionären Klasse messen zu wollen. Zwar lassen sich für wesentliche Momente einer Revolution im Ring szenische Entsprechungen finden. Sie fügen sich aber kaum zu einem - und sei es auch nur revolutionsähnlichen - Handlungsgeschehen zusammen: Die Unterdrückung und Ausbeutung wird am Schicksal der Nibelungen in Szene gesetzt, bleibt aber folgenlos; die Rebellion wird dagegen in Siegfried dargestellt, der aber weder die Nibelungen oder sonst Unterdrückte repräsentiert, noch als reflexionsloser Naturbursche aus Einsicht in Mechanismen der Unterdrückung handelt. Aus der Tatsache aber, daß Siegfried sich dem Bild eines proletarischen Revolutionärs nicht fügt, zieht Adorno eine methodische Konsequenz, die fragwürdig ist: Statt seinen Interpretationsansatz zu modifizieren oder dessen Schwachstellen einzuräumen, interpretiert er die Divergenz von Deutungsmodell und Handlungsfigur recht umstandslos als Chiffre gesellschaftlicher Verblendung: Siegfried wird zum Verräter an der Rolle des Revolutionärs: "Wagner fälscht den Zustand des Enterbten (gemeint ist das in Siegfried personifizierte Proletariat, H. F.) aus dem des Unterdrückten in den des unverstümmelten Menschen um. Kraft solcher Fälschung gibt Siegfried sich zum Diener des listig Bestehenden her und wird der Komplize des Ganzen, der nicht bloß dieses, sondern auch sich selber - man könnte sagen: ein nach dem Muster des Holzfällers entworfenes Proletariat - in den Untergang treibt. Siegfried, einmal in diese Rolle versetzt, bleibt nicht länger allegorischer Repräsentant der Klasse; er verwandelt sich ins "Individuum", und als solches gerade ins Trugbild geschichtlos-reinen, unmittelbaren Menschenwesens. Aus dem Revolutionär wird der Rebell. All seine Opposition bleibt in Systemzwang der bürgerlichen Gesellschaft, weil sie nicht selbst aus dem gesellschaftlichen Prozeß entwickelt, sondern diesem scheinbar von außen entgegensetzt und dann in den Strudel hineingerissen wird." 7)


Was Adorno an der Figur Siegfrieds und darüberhinaus an Wagners Mythologie provoziert, ist die Fiktion einer außergeschichtlichen, unmittelbaren Natur. Denn aus der Sicht einer geschichtsphilosophischen Konzeption, derzufolge das Verhältnis der Menschen zueinander und zu ihrer Gegenstandswelt durch gesellschaftliche Arbeit vermittelt ist, ist sie nichts anderes als ein Blendwerk, eine "Phantasmagorie". 8) Diese aber ist darum so fragwürdig, weil sie an der Realität das Moment des Gewordenen unterschlägt und damit deren Veränderbarkeit leugnet. Eine solche "Naturalisierung" aber wird umso ideologieverdächtiger, je aussichtsloser in der hochkapitalistischen Gesellschaft eine Aufhebung des Zusammenhanges von Herrschaft und Entfremdung wird. Daher wahrscheinlich auch ein Gutteil der Hartnäckigkeit, mit der Adorno Wagners Werk der Trugbildhaftigkeit zu überführen sucht, und der Elan, mit dem er sich über Widerstände des Werkes selbst hinwegsetzt.


Wagners Trugbilder sind also der Geschichte enthobene und damit in ein "natürliches" Dasein verzauberte Fiktionen. 9) Sie werden besonders greifbar in der Venusbergszene des Tannhäusers, für


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