Singen wird schon seit jeher als geeignetes Mittel zur Schulung des Gehörs sowie zur
Unterstützung des Melodiegedächtnisses angesehen. So schrieb z. B. Robert Schumann in
seinen »Musikalischen Haus- und Lebensregeln«:
Bemühe dich, und wenn du auch nur wenig Stimme hast, ohne Hülfe des
Instruments vom Blatt zu singen; die Schärfe deines Gehörs wird dadurch immer
zunehmen. (zit. nach Appel 2002, S. 295)
Dass dies auch heute noch so gesehen wird, zeigt sich in der bedeutenden Rolle, die
Singen im schulischen Musikunterricht sowie in Seminaren zur Gehörbildung an
Konservatorien und Musikhochschulen spielt. Man muss also davon ausgehen, dass sich
Singen positiv auf musikalische Gedächtnisleistungen auswirkt, sonst würde man die
Erfolge gängiger Gehörbildungsansätze bzw. allgemein tradierter musikpädagogischer
Erziehungsmethoden in Frage stellen. Dies erlaubt jedoch noch nicht den Schluss,
dass sich »Inneres Singen« in ähnlicher Weise auf das musikalische Gedächtnis
auswirkt. Aus den Ergebnissen dieser Arbeit kann auch keine Forderung nach einer
Übertragung aus der Sportwissenschaft bekannter mentaler Trainingsmethoden in die
Gehörbildung abgeleitet werden. Mentales Training im Sport beinhaltet die genaue und
bewusste Vorstellung von Bewegungen. Das Verhältnis von Klangvorstellung und
motorischen Prozessen ist offensichtlich wesentlich weniger direkt und noch kaum
erforscht.
Ausblick
Der Einfluss des Singens auf musikalische Gedächtnisaufgaben und »Inneres Singen« ist nur
schwierig empirisch überprüfbar. Hinweise auf einen solchen finden sich in mehreren im
Theorieteil angeführten Studien (z. B. von Mainwaring 1933; Gippenreiter 1958; Leont’ev &
Ovchinnikova 1958; Leont’ev 1959; Ovchinnikova 1960; Wickelgren 1966; Farah & Smith
1983 sowie von Wallace 1994). In einer Studie von Roger G. Pembrook (1987) erwies sich das
Singen bei nichtprofessionellen Sängern dagegen als störend im Prozess des Enkodierens und
späteren Wiedererkennens von Melodien.
Man könnte in künftigen Untersuchungen zwei Gruppen bilden und mit beiden
Gehörbildungsaufgaben üben, indem man in einer Bedingung die Probanden auffordert,
sich beispielsweise bestimmte Intervallqualitäten durch Nachsingen zu merken,
wohingegen man in der anderen Bedingung/Gruppe dieses Hilfsmittel strikt untersagt
oder durch phonatorische Interferenz erschwert. Anhand eines Vergleichs der in
entsprechenden Gehörbildungstests erbrachten Leistungen (bei denen nicht laut
gesungen werden darf) vor und nach diesem Training könnten dann eventuell
Aussagen über einen positiven Einfluss der Zuhilfenahme der Singstimme gemacht
werden. Es ist jedoch dabei nicht auszuschließen, dass Menschen auch ohne »lautes«
(hörbares) Singen gute Leistungen erbringen, sei es weil Singen keine Rolle beim
Erlernen musikalischer Gedächtnisinhalte spielt oder weil sie bereits zuvor in ihrem
Leben viel gesungen und Musik gehört haben und sich dadurch das Mitsingen in
Form winziger Kehlkopfbewegungen weitestgehend automatisiert und internalisiert
hat.
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