- 52 -Schläbitz, Norbert: Mit System ins Durcheinander  
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Welt darstellt. Durchschaubar wird sie, indem eine Unterscheidung getroffen wird: »Draw a distinction«, wie Spencer-Brown sagt. Im Zuge der Markierung wird die Idee Motorrad in die Welt gebracht und »identifiziert«, die aber nicht die Welt ist. Eine andere Verletzung – Differenz, ein anderer Standpunkt – eine andere Welt, die dann nicht Motorrad, sondern wie auch immer, auf alle Fälle recht wahrscheinlich anders geheißen wird.



Mit der Wahl der Unterscheidung ist der beobachtete Gegenstand schon im Vorfeld einer Beobachtung notwendigerweise bezeichnet und Erkenntnis eine aus dem Kontext der Unterscheidung abgeleitete, also eine vom Unterscheidungen treffenden Beobachter vorgegebene (vgl. Luhmann 41993: 596f.). Weniger ein »Welt der Gegenstände« wird beobachtet, sondern vielmehr der Beobachter, der unterscheidungsgeleitet seine Welt konstruiert. Eine andere Unterscheidung/Bezeichnung ergibt zwangsläufig eine andere Beobachtung und Erkenntnis.

Je genauer nun beobachtet werden soll, um so stärker wird die Welt nach den Informationen selektiert, die der Beobachter in der Welt erkennt, indem er sie durch seine Unterscheidung in die Welt setzt. Sein Einfluss auf die Gestaltwerdung nimmt zu. Heisenbergs Unschärferelation bspw. gründet in eben diesem Phänomen.11

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Wissenschaft ist im Verlaufe der Zeit immer tiefer in die Struktur der Dinge eingedrungen, um sozusagen den substantiellen Wesenskern zu lokalisieren. Dabei verliert sich aber alles Manifeste in einem Teilchenstrom, sodass Erwin Schrödinger vom einem beispielhaft angenommenen Schreibtisch sagen kann, er besteht »doch zum weit überwiegendem Teil aus sogenanntem leeren Raum, in welchem bloß winzig kleine Atomkerne und Elektronen in unermeßlicher Zahl umeinanderwirbeln« (1989: 63).

Die Elementarteilchenphysik stieß nun bei ihrer Suche nach der wirklich letzten Wirklichkeit auf das Problem, dass das Verhalten der Elementarteilchen nicht den erhofften Wesenskern offenbarte, sondern im Gegenteil die Existenz der Wirklichkeit stark infrage stellte. Elementarteilchen weisen paradoxe Eigenschaften auf. Sie können sowohl als Welle als auch als Teilchen erscheinen. Je nach dem, was man zu messen beabsichtigt, ändert das Elektron seine Gestalt in die eine oder andere Richtung. Niels Bohr, Begründer der Quantenmechanik, versuchte mit dem Begriff der Komplementarität das Phänomenale dieser neuen Situation zu umfassen. Das Komplementaritätsprinzip besagt, dass zwei sich prinzipiell ausschließende Beziehungen dem beobachteten Phänomen innewohnen und für dessen Verständnis auch sich gegenseitig ausschließende Beschreibungen notwendig sind. Weniger abstrakt kann man von einer fließenden Ganzheit sprechen, was meint, dass sich Ausschließendes im Ganzen vereinigt ist und für den momentanen Zustand der der Umwelt zugehörige Experimentator als Teil des Ganzen verantwortlich ist. Bohr sah in der Komplementarität ein allgemeines, nicht nur auf der mikrokosmischen Ebene wirkendes Merkmal in der Welt. Der Zeitgenosse Bohrs, der Mathematiker Schrödinger, spricht vom Welle-Teilchen-Dualismus, ein Phänomen in der Quantenmechanik, das »jede Generation von Physikstudenten aufs Neue in Verwirrung stürzt« (Lindley 1997: 84).

Die experimentellen Umstände bestimmen darüber mit, ob etwas als Welle oder Teilchen erscheint. Die Idee der Substanz mit ihrer Summe spezifischer Eigenschaften, wie die klassische newtonsche Physik sie voraussetzt, ist durch die Wechselwirkung zwischen Messinstrument und Objekt der Beobachtung verlorengegangen, da die Eigenschaften des An-Sich-Dinges beeinflusst sind. Das Messverfahren wirkt auf das Objekt ein, verändert Eigenschaften. Subjekt und Objekt bedingen einander. Werner Heisenberg sagte von Atomen und Elementarteilchen, daß sie »eher eine Welt von Tendenzen und Möglichkeiten als eine von Dingen und Tatsachen« (zit n. Hayward 1996: 36) bilden würde. Unterstellte der griechische Philosoph Heraklit einst, daß alles in der Welt fließt, und sah Demokrit die Welt eher in Atome aufgelöst, so sind beide Ansichten von Welt heute zusammengeführt.

Heisenberg versuchte die Welt der Tendenzen und Möglichkeiten genauer zu erfassen und stieß dabei an die Grenzen dessen, was genau erfasst werden kann. Ausgedrückt ist das im Begriff der Unschärferelation. Um genaue Aussagen über die Bewegungsrichtung eines Elektrons machen zu können, bedarf es der genauen Kenntnis von Impuls (schließt Geschwindigkeit/Richtung ein) und Ort desselben. Zur Ortsbestimmung wird das Elektron als Teilchen, zur Impulsbestimmung als Welle aufgefasst. Die Problematik, die sich ergibt, ist nun folgende: Die genaue Berechnung des Ortes führt zur Unbestimmtheit des Impulses, umgekehrt geht proportional zu der genauen Impulsbestimmung die Unbestimmtheit des Ortes einher (vgl. Lindley 1997: 82–90; Theimer 21986: 399f.). Heisenberg hat diesen Sachverhalt folgendermaßen zu veranschaulichen gesucht: Will man den Ort bestimmen, wird das Elektron mit einem kurzwelligen Lichtquant beschossen. Je höher die Frequenz des Lichtquants (Photons) liegt, um so höher liegt die Energie desselben. Mit dem Anwachsen der zur Ortsbestimmung verwendeten Energie aber wird das Elektron durch die immer härter auftreffenden Photonen in seiner Bahn gestört. Die Bahn verändert sich. Eine genaue Bahnbestimmung ist nun nur über die Messung an mindestens zwei Orten möglich. Doch eine zweite Ortsbestimmung zeigt den durch die erste Messung veränderten Ort an, sagt aber nichts aus über die Bahn, welche das Elektron ohne Messung eingeschlagen hätte. Das Objekt verhält sich als gemessenes schlicht anders, als wenn es ungemessen verblieben wäre. Den genauen Ort und auch genauen Impuls eines Elektrons zu ermitteln ist faktisch nicht möglich. Das Prinzip der klassischen Physik – das der lückenlosen Vorhersagbarkeit physikalischer Prozesse – ist aufgehoben. Subjekt (Beobachter) und Objekt (Beobachtetes) werden in ein sich gegenseitig bedingendes Geflecht auflöst, und die traditionelle Subjekt/Objekt-Relation ist aufgebrochen. Wer über das Elektron etwas wissen will, muss messen. Wer aber misst, hat es schon verändert.

Wer vermeintlich neutral beobachtet, greift tatsächlich in den Lauf der Dinge ein: Er handelt. Er ist kein passiver Beobachter, sondern ein aktiv Handelnder. Das lässt Heisenberg nun die Worte wählen; »Auch in der Naturwissenschaft ist der Gegenstand der Forschung nicht mehr die Natur an sich, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur, und insofern begegnet der Mensch auch hier wieder sich selbst« (zit. n. Schirmbeck 1964: 64). Und mit einer gewissen Skepsis dieser Entwicklung gegenüber stellt Schrödinger dar: »Wir können keinerlei sachliche Feststellung über einen Naturgegenstand (oder ein physikalisches System) machen, ohne mit ihm ›in Kontakt zu treten‹. Ein solcher Kontakt ist eine echte physikalische Wechselwirkung. Auch wenn er lediglich darin besteht, daß wir ›das Ding anschauen‹, so muß dieses doch von Lichtstrahlen getroffen werden und sie in unser Auge reflektieren oder in irgendein Beobachtungsgerät. Das bedeutet, daß das Objekt durch unsere Beobachtung beeinflußt wird« (1989: 71). Damit relativiert sich aber der Wahrheitswert jeder wissenschaftlichen Erkenntnis. Dinge (Objekte) können nur unter Einbeziehung des Einfluss nehmenden Beobachters (Subjekt) bewertet werden. Es ist eine unlösliche Wechselbeziehung, die besteht, und den Subjekt/Objekt-Gedanken – als die Trennung in vermeintlich Unverbundenes und je für sich Seiendes – bezweifelt. »Subjekt und Objekt sind nur eines. Man kann nicht sagen, die Schranke zwischen ihnen sei unter dem Ansturm neuester physikalischer Erfahrungen gefallen; die Schranke existiert gar nicht« (Schrödinger 1989: 75).

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