2.
Zur ästhetischen Theorie
In der Einleitung wurde darauf hingewiesen, dass das gezielte Hervorrufen bestimmter
emotionaler Zustände den Kern der Ästhetik nordindischer Kunstmusik darstellt. Die
Geschichte auch nur dieses Teils der ästhetischen Theorie detailliert nachzuzeichnen,
würde den Rahmen einer Magisterarbeit bei weitem sprengen. Daher soll das Konzept
anhand einiger weniger Meilensteine der musiktheoretischen Literatur und der
Geschichte Indiens verdeutlicht werden.
2.1. Das Nāṭyaśāstra des Bharata
Die älteste uns zugängliche Quelle zur musikästhetischen Theorie Indiens ist das
Nāṭyaśāstra des Bharata
(oder Bharata Muni, wie er auch bezeichnet
wird), das antike Lehrbuch der Dramaturgie. Eine exakte Datierung des Textes
ist bis heute nicht gelungen, allgemein wird jedoch angenommen, dass er
zwischen dem 1. Jahrhundert v. Chr. und dem 1. Jahrhundert n. Chr. verfasst
wurde.
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Auch die Frage, ob die Autorschaft tatsächlich einer Einzelperson zugeschrieben werden kann,
oder ob sich hinter dem Namen
Bharata eine Gruppe von Autoren verbirgt, muss vorläufig offen
bleiben.
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Im Kontext dieser Arbeit spielt jedoch keine dieser Fragen eine nennenswerte
Rolle.
Das Nāṭyaśāstra
wurde als Enzyklopädie der Bühnenkunst konzipiert und umfasst
alle erdenklichen Aspekte des altindischen Theaters, angefangen von Bau und Anlage des
Theaters über Arten des Schauspiels, Mimik, Gestik, Tanz, Schminke, Kostüme bis hin zur
Musik.
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Im Gegensatz zu späteren theoretischen Schriften wird die Musik hier also nicht
als autonome Einzelkunst betrachtet, sondern als integraler Bestandteil des
Theaters.
Die Kapitel 6 und 7 behandeln die rasa-Lehre, das ästhetische Zentrum des Textes, aus dem
heraus sich die zahlreichen detaillierten Anweisungen für Schauspieler, Tänzer, Musiker etc.
entfalten.
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Um verstehen zu können, welche Rolle die Ästhetik als Quelle aller künstlerischen
Tätigkeit einnimmt, und wie eng dabei ästhetisches Erleben und spirituelle Erfahrung
miteinander verknüpft sind, sei an dieser Stelle ein Kommentar zum
Nāṭyaśāstra
aus dem 13. Jahrhundert zitiert: »This art is indeed capable of securing the four fold
objects of life, namely virtue (Dharma), wealth (Artha), conjugal happiness (Kama) and
salvation (Moksa), increasing one’s fame, promoting self-confidence in speech and
demeanour, making for success in life, and increasing one’s skill in handling men
and things. It will help the growth of liberality, firmness, courage and grace
in movements. It will drive away pain, sorrow, despair and mental affliction
(…).«
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