1.
Einleitung
Während die europäische Musikwissenschaft sich im Laufe des 20. Jahrhunderts immer
weiter von Fragen der Ästhetik entfernt hat, um das Feld der Philosophie zu überlassen,
stellt die Beschäftigung mit diesen Fragen einen höchst lebendigen Teil der indischen
Musikwissenschaft dar. Seit Jahrzehnten schon sind westliche Ethnomusikologen fasziniert von
der Akribie und Systematik altindischer Texte zur Kunst im Allgemeinen und zur Musik im
Speziellen.
1
Noch heute wird kaum eine wissenschaftliche Abhandlung über Theater, Malerei,
Literatur, Film oder Musik publiziert, welche nicht die erstaunlich stabile Tradition der
ästhetischen Theorie berücksichtigt.
Wollte man deren Kern in einem Satz zusammenfassen, so ließe sich sagen, dass ihr
Hauptaugenmerk auf der Interaktion zwischen Werk und Rezipienten liegt, unter
spezieller Berücksichtigung des emotionalen Erlebens von Kunst.
Im besonderen Maße hat sich diese Tradition in der nordindischen Kunstmusik
fortgepflanzt. Kaum ein Musiker verzichtet bei der Präsentation eines klassischen
Musikstücks, eines rāga,
darauf hinzuweisen, welcher Charakter ihm zugeschrieben
wird, und welche emotionale Wirkung er auf den Hörer ausübt. Dies gilt für Beihefte
von Tonträgern ebenso wie für Ankündigungen im Konzertsaal, unabhängig
davon, ob ein vorwiegend indisches oder westliches Publikum angesprochen
wird.
Wenngleich in keiner mir bekannten musiktheoretischen Schrift explizit auf eine
mögliche, Kultur unabhängige Wirkung nordindischer Kunstmusik hingewiesen wird,
scheint diese Annahme unter indischen Musikern weit verbreitet zu sein.
Vor dem Hintergrund, dass sich die Vergleichende Musikwissenschaft spätestens
seit den 80er Jahren endgültig von der Idee der musikalischen Universalien
verabschiedet hat, mag der Glaube an eine vorhersagbare und obendrein Kultur
übergreifende Wirkung von Musik geradezu esoterisch erscheinen. »Um
fremde Musik angemessen zu verstehen, bedarf es jahrelangen Trainings zur
Dekonditionierung eigener und Neukonditionierung fremder Hörweisen. Spontane
Einfühlung oder Selbsterfahrung führt ausnahmslos zu Missverständnissen und
Fehlreaktionen.«
2
Mit diesen Sätzen scheinen die Autoren Rudolf Maria Brandl und Helmut Rösing nicht
nur den Musikwissenschaftler warnen zu wollen, der es wagen könnte, einmal mehr das
Konzept von »Musik als universaler Sprache« aufzugreifen, sondern auch den Laien, der
gelegentlich, aus latentem Interesse oder spontaner Eingebung, ein Konzert
außereuropäischer Musik einem Kinobesuch vorzieht.
Beobachtet man bei Konzerten klassischer nordindischer Musik die Reaktionen eines
europäischen Publikums, das nur zu einem geringen Anteil aus Fachleuten besteht, so
kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Mehrheit der Zuhörer von der
Musik nicht nur fasziniert ist, sondern diese auch emotional zu