- 1 -Schmidt, Markus: Ästhetik und Emotion in der nordindischen Kunstmusik 
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1.  Einleitung

Während die europäische Musikwissenschaft sich im Laufe des 20. Jahrhunderts immer weiter von Fragen der Ästhetik entfernt hat, um das Feld der Philosophie zu überlassen, stellt die Beschäftigung mit diesen Fragen einen höchst lebendigen Teil der indischen Musikwissenschaft dar. Seit Jahrzehnten schon sind westliche Ethnomusikologen fasziniert von der Akribie und Systematik altindischer Texte zur Kunst im Allgemeinen und zur Musik im Speziellen. 1

1   I.e. v.a. Bharata Muni (angenommener Autor) The Natyasastra, Gosh, M. (Hrsg.), 1967 (Vol. 1) und 1961 (Vol. 2); Sarngadeva: Sangita-Ratnakara, Sharma (Hrsg.), 1984 (Vol. 1) und 1989 (Vol. 2).

Noch heute wird kaum eine wissenschaftliche Abhandlung über Theater, Malerei, Literatur, Film oder Musik publiziert, welche nicht die erstaunlich stabile Tradition der ästhetischen Theorie berücksichtigt.

Wollte man deren Kern in einem Satz zusammenfassen, so ließe sich sagen, dass ihr Hauptaugenmerk auf der Interaktion zwischen Werk und Rezipienten liegt, unter spezieller Berücksichtigung des emotionalen Erlebens von Kunst.

Im besonderen Maße hat sich diese Tradition in der nordindischen Kunstmusik fortgepflanzt. Kaum ein Musiker verzichtet bei der Präsentation eines klassischen Musikstücks, eines rāga, darauf hinzuweisen, welcher Charakter ihm zugeschrieben wird, und welche emotionale Wirkung er auf den Hörer ausübt. Dies gilt für Beihefte von Tonträgern ebenso wie für Ankündigungen im Konzertsaal, unabhängig davon, ob ein vorwiegend indisches oder westliches Publikum angesprochen wird.

Wenngleich in keiner mir bekannten musiktheoretischen Schrift explizit auf eine mögliche, Kultur unabhängige Wirkung nordindischer Kunstmusik hingewiesen wird, scheint diese Annahme unter indischen Musikern weit verbreitet zu sein.

Vor dem Hintergrund, dass sich die Vergleichende Musikwissenschaft spätestens seit den 80er Jahren endgültig von der Idee der musikalischen Universalien verabschiedet hat, mag der Glaube an eine vorhersagbare und obendrein Kultur übergreifende Wirkung von Musik geradezu esoterisch erscheinen. »Um fremde Musik angemessen zu verstehen, bedarf es jahrelangen Trainings zur Dekonditionierung eigener und Neukonditionierung fremder Hörweisen. Spontane Einfühlung oder Selbsterfahrung führt ausnahmslos zu Missverständnissen und Fehlreaktionen.« 2

2   Brandl und Rösing in Bruhn, Oerter und Rösing (Hrsg.), 1994, S. 58.

Mit diesen Sätzen scheinen die Autoren Rudolf Maria Brandl und Helmut Rösing nicht nur den Musikwissenschaftler warnen zu wollen, der es wagen könnte, einmal mehr das Konzept von »Musik als universaler Sprache« aufzugreifen, sondern auch den Laien, der gelegentlich, aus latentem Interesse oder spontaner Eingebung, ein Konzert außereuropäischer Musik einem Kinobesuch vorzieht.

Beobachtet man bei Konzerten klassischer nordindischer Musik die Reaktionen eines europäischen Publikums, das nur zu einem geringen Anteil aus Fachleuten besteht, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Mehrheit der Zuhörer von der Musik nicht nur fasziniert ist, sondern diese auch emotional zu


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