- 43 -Probst-Effah, Gisela (Hrsg.): Musikalische Volkskultur und elektronische Medien 
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Im Stück amüsiert sich der Kaiser über diese Liedsatire auf seine Regierung (»Glückliches Volk, das einen Souverän hat, der weise genug ist, auch ein Spottlied leutselig hinzunehmen«). Doch solche Verballhornung blieb ambitionierte Fiktion, denn Gressiekers Stück ist nie aufgeführt worden33

33   Freundliche Auskunft von Gesine Pagels, Verlag Felix Bloch Erben, 21. Oktober 2004.

– und tatsächlich sind aus der Zeit Wilhelms II. bislang keine kritischen Parodien bekannt.

Auch Janosch bezieht sich in seinem Roman »Cholonek oder Der liebe Gott aus Lehm« (1985) auf dieses Lied und legt es seinem Protagonisten, dem Straßenkehrer Schwientek, in den Mund. Die Geschichte spielt um 1930 im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu in Schlesien. Wenn Schwientek seine »Semmeltage« hat – will sagen: wenn dieser seine Lohntüte versoffen hat – dann singt er berauscht in aller Öffentlichkeit:34

34   »Regelmäßig alle fünf bis sechs Wochen, wenn Zeit für Semmeltage war, kroch der Schwientek mit der Lohntüte hinten durch ein Loch im Zaun«, damit seine Frau ihm die Lohntüte mit »62 Mark 30 Pfennig pro Woche« nicht abnehmen konnte. »Die Semmeltage waren für ihn das Wichtigste, das Schönste. Das brauchte er zum Leben«. Janosch: Cholonek oder Der liebe Gott aus Lehm. Zürich 1985, S. 130.

Der Kaiser is ein guter Mann
Und kommt aus Schwahabenland,
und wenn er nich gestorben ihis
mit Herz, mit Fuß und Hand 35


35   Ebd. S. 131.

Dieses quodlibetartige Verspotpourri bietet eine hintergründige Liedparodie. Nach einer Anspielung auf den süddeutschen Stammsitz der Hohenzollern in der zweiten Zeile, die das bekannte Lied »Ich bin ein Musikante und komm aus Schwabenland« aufnimmt, kontrastiert Janosch mit der Anlehnung an die märchenhafte Wendung »und wenn sie nicht gestorben sind« im dritten Vers und an die hurrapatriotische Formel »Mit Herz und Hand fürs Vaterland«36

36   Besonders prominent vertreten im Refrain: »Gloria Viktoria! Mit Herz und Hand fürs Vaterland […]«, der im Ersten Weltkrieg ein verbreitetes Anhängsel zu »Ich hatt’ einen Kameraden« wurde. Vgl. Das Volkslied im jetzigen Kriege. Neue Kehrverse zu alten Soldatenliedern. Nachtrag: Gloria, Viktoria. In: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 25 (1925), S. 392–398; und Hermann Tardel: Der Gloria Viktoria-Kehrreim. In: Hessische Blätter für Volkskunde 17 (1918), S. 1–14. – Im Ersten Weltkrieg wurde auch ein Propagandafilm gedreht, der den Titel »Mit Herz und Hand fürs Vaterland« (1916) trug.

im vierten Vers die nunmehr irreale Welt der Monarchie mit den Realitäten von Weltkrieg und Revolution.

*

Bis heute fungiert das Lied als Paradigma fürs Kaiserreich: in der allgemeinen Erinnerungsliteratur ebenso wie in den Schulmuseen von Hamburg, Bergisch-Gladbach und Leipzig, auf monarchistischen Web-Seiten oder aber als Motto für kulturhistorische Essays.37

37   Barbara James: »Der Kaiser ist ein lieber Mann …«. Schullieder auf Kaiser Wilhelm. In: Sabine Schutte (Hrsg.): Ich will aber gerade vom Leben singen Über populäre Musik vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ende der Weimarer Republik. Reinbek 1987 (Geschichte der Musik in Deutschland 4), S. 168–187. – Heinz Hansen: »Der Kaiser ist ein lieber Mann«. Vom Gesangunterricht in der »guten, alten Zeit«. In: Carl Cüppers, Rainer Michel: Tornister, Tafel, Tintenfaß. Eine bergische Schulgeschichte. Gummersbach 1995, S. 210–216. – Klaus Goebel: »Der Kaiser ist ein lieber Mann und wohnet in Berlin«. Auf den Spuren politischen Wandels im Unterricht der Volksschule Echoer Straße (1988). In ders.: Wer die Schule hat, der hat die Zukunft. Gesammelte Aufsätze zur rheinisch-westfälischen Schulgeschichte, Bochum 1995 (Dortmunder Arbeiten zur Schulgeschichte und zur historischen Didaktik 25) S. 223–228.


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