C. Der Kaiser ist ein lieber Mann
(Österreichische Fassung 1903)
1. | Der Kaiser ist ein lieber Mann,
er wohnt im schönen Wien;
und wär’ es nicht so weit von hier,
so ging ich heut noch hin. |
2. | Und was ich bei dem Kaiser wollt’?
Ich gäb’ ihm eine Hand,
und brächt’ die schönsten Blumen ihm,
das ich im Garten fand. |
3. | Und sagte dann: »Aus treuer Lieb
bring’ ich die Blumen dir!«
Und dann lief ich geschwinde fort
und wär’ bald wieder hier. |
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Liederbuch für die Jugend. Eine Sammlung von 112 ein-, zwei- u. dreistimmigen Liedern für
allgemeine Volkschulen und für Bürgerschulen. Hrsg. von Franz Blümel und Raimund
Gotthart. 23. Auflage (unveränderter Abdruck der 17. Auflage 1903) Wien 1910,
S. 81.
3. Ausführlicher wissenschaftlicher Liedkommentar
Das Lied »Der Kaiser ist ein lieber Mann« gehörte in der Zeit der Jahrhundertwende zur
Grundausstattung der schulischen Sozialisation im deutschen Kaiserreich und wurde
insbesondere in Hinblick auf Wilhelm II. und »Kaisers Geburtstag« (27. Januar)
gepflegt. Der Text artikuliert als (kindliche) Fantasie den Wunsch, dem Kaiser einmal
nahe zu kommen und ihn dabei zu beschenken – sei es als Gottesbote oder in
gebührender Unterwürfigkeit (»in treuer Lieb’«). Ausgehend vom verbreiteten Wunsch,
eine derart exponierte Persönlichkeit wie den Kaiser aus unmittelbarer Nähe zu erleben,
wird hier im Kostüm kindlicher Naivität eine Nähe zum Monarchen hergestellt, die die
reale soziale Entfernung transzendiert und somit ein geradezu persönliches
Verhältnis zwischen dem Regenten und jedem Menschenkinde in seinem Land
suggeriert.