- 221 -Probst-Effah, Gisela (Hrsg.): Musikalische Volkskultur und elektronische Medien 
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versucht haben, dem Regime u. a. auch durch Lieder entgegenzutreten. Vielleicht hat dieser thematisch und materialiter unvermeidlich eng begrenzte Ausschnitt von Zeitzeugnissen, anders gesagt: unser knappes Hinhören auf die damalige »Stimme des Volkes«, einsichtig gemacht, wie unverkennbar auch Lieder vielfach eben doch sehr aufschlussreiche Äußerungen gerade solcher Menschen sind, welche die Geschichte nicht gelenkt haben, sondern lediglich zu jenen Millionen gehören, welche die Geschichte nur erleben durften und viel zu oft erleiden mussten und daher in den Geschichtsdokumentationen weitgehend stumm geblieben sind. Denn im Gegensatz zu fast jedem Wort oder Unwort der »Großen« ist von den Myriaden solcher gesprochenen, geschriebenen und eben oft zusätzlich auch so wirkungsvoll als Lied gesungenen Worte des »Volkes« von seiten der Geschichtsforschung – zumindest bis zur Entdeckung der Bedeutung der oral history – kaum etwas aufgespürt, aufgesammelt und für berücksichtigenswert gehalten worden.

Anders verfuhr die Volkskunde, deren Text- und Liedforschung durch und seit Herder in ganz Europa ja alles oral tradierte Singgut als einen Kerngegenstand ihrer Forschung ansah und es seitdem – also seit mehr als zweihundert Jahren – weitmöglichst systematisch gesammelt, akribisch aufgezeichnet, archiviert und vielfach auch in großen Anthologien veröffentlicht hat. Angemerkt sei, dass sich darunter neben den »affirmativen« eben auch Tausende gesamteuropäische kritische Lieder befinden und dass in den Archiven und Sammlungen zahllose weitere ruhen. Inzwischen allerdings wurden sie hier und da als eine teilweise über Jahrhunderte erhaltene »Stimme des Volkes« aus nahezu allen europäischen Regionen identifiziert und in ihrem hohen Dokumentationswert erkannt.

Auf dem Hintergrund des Tagungsthemas Musikalische Volkskulturen und elektronische Medien wird vielleicht verständlich, weshalb hier neben sehr handfesten und kämpferischen Zeugnissen von Gegengesinnung und Widerstandsgeist im Volk z. T. auch einige scheinbar banale oder gar marginale, in Wirklichkeit aber emotional wie weltanschaulich ebenso bedeutsame Zeugnisse einer gegen das NS-Regime, seine Funktionäre, Henker, Heerführer und Vollstrecker gerichteten Gesinnung aus dem politischen Volksmund aufgewiesen wurden, die sich eben gerade auch in parodierten Medienhits niederschlug. Zusammen mit mehreren hundert weiteren Liedbelegen unseres Instituts-Forschungsprojekts zum oppositionellen Singen in der NS-Zeit bieten sie die Möglichkeit, den – teilweise erst durch die schlimmen Erfahrungen mit dem Regime und mit dem Krieg grundlegend gewandelten – Barometerstand der damaligen Volksmeinung in Deutschland zum NS-Regime sehr viel präziser abzulesen, als dies ohne Berücksichtigung dieser Lieder möglich wäre. Damit soll nicht historische Schuld kleingeredet, sondern historische Gerechtigkeit gegenüber eben jenen Mutigen geübt werden, die auch über das wirkungsstarke Medium des Singens versucht haben, gegen dieses NS-Regime Stellung zu beziehen, sich dazu trotz eigener Gefährdung eben auch singend anderen mitzuteilen und sie zu solidarisieren. Die Härte der Gegenreaktion des Regimes gegen solche Versuche ist ein Gradmesser dafür, als wie gefährlich solche Opposition im Lied eingeschätzt wurde.


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