- 306 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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zwischen dem dionysischen und appollinischen Prinzip, ein Streben nach Freiheit, die in eine konsequente Form, der Dreiteiligkeit des Werks und der einzelnen Stücke, gedrückt wird, der Zwang, der dem Frei-Sein-Wollen gegenübersteht. Das appollinische gewinnt zwar letztlich die Auseinandersetzung, aber es bleiben fragende Anteile des dionysischen zurück. Außerdem wird durch die Chromatik das Leiden unter dem Sieger deutlich. Darin mag auch letztlich die Erklärung für den Titel dieser Komposition liegen. Das Ringen zwischen Gefühl und Verstand wird als eine Art ›Drahtseilakt‹, als Danse fatale im wahrsten Sinne des Wortes, verstanden – ein Tanz auf dünnem Seil, bei dem es darum geht, genau die Balance zu finden. Gelingt dies nicht, so kann es letztlich ›fatale‹ Folgen haben. Auf diesen Drahtseilakt verweist auch die Form des Tanzes (Seiltanz), denn ein Tanz kann einerseits Emotionen ausdrücken (z.B. durch unterschiedliche Tanzarten wie Dance macabre o. ä.), andererseits ist er durch Schrittfolge, Körperhaltung oder sonstige Etikette in relativ enge Konventionen gepreßt. Insofern könnte auch die musikalische Form den oben angesprochenen Zwiespalt ausdrücken.

Mit dem o.g. Deutungsversuch kann ein Bezug zu postmodernen Vorstellungen hergestellt werden wie Brunhilde Sonntag sie selbst in ihrem unveröffentlichten Aufsatz zur Postmoderne in der Musik (39ff) formuliert hat. Musik ist hier kein Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern von persönlichen Erfahrungen, die jeder machen kann. Insofern hat das Stück nicht nur persönliche, sondern auch gesellschaftliche Relevanz und wird zeitlos. Dadurch gewinnt es wieder ein Stück der Freiheit, die ihm durch die Form genommen scheint.

5 Abschließende Betrachtungen

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, daß das Akkordeon zwar ein Instrument des 19. Jahrhunderts ist, seine Literatur sich aber erst seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt und sich dabei sehr stark an den vorangegangenen Epochen orientiert hat. Dies bezieht sich in erster Linie auf die Kompositionsform. Diese traditionellen Formen wurden durch Tonalitätsvorstellungen des 20. Jahrhunderts ergänzt, so daß letztlich nur sehr wenige (hier nicht aufgeführte Werke) tatsächlich im alten Stil komponiert worden sind. Insgesamt hat die Literatur eine Entwicklung durchgemacht, die – beginnend in den 50er Jahren – das Akkordeon in der zeitgenössischen Musik ›hoffähig‹ und in verschiedenen Bereichen etabliert hat, was ohne die frühen Versuche Hugo Herrmanns kaum denkbar gewesen wäre. Dennoch bleibt festzuhalten, daß es Gattungen gibt, in denen das Akkordeon unterrepräsentiert ist, z.B. in der Programmusik (wenngleich sie im zwanzigsten Jahrhundert


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