- 258 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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entsprechen. Erst in der letzten Variation (T. 110–125) bringt Schnittke den Hymnus ohne Veränderungen, zunächst nur die Oberstimme, dann als vollständigen dreistimmigen Satz.

Die Variationstechnik betrifft Tonhöhen, Transpositionsverhältnisse, Intervallumkehrungen und an einer Stelle die Metrik; grundsätzlich nicht von ihr berührt wird die Rhythmik. So ist der ruhig fließende Wechsel von halben und ganzen Noten, der die Vorlage charakterisiert, also der Bezug zu liturgischer Musik, von vornherein und ständig präsent. Das legt die programmatische Assoziation nahe, hier wolle jemand beten und erinnere sich mühsam, in mehreren Schritten, an Melodie und Text des Gebets.

Die Hymnen sind untypisch für Schnittkes Stil, und er hat diesen Weg nicht weiter verfolgt. Merkmale, wie sie sich hier finden – die ebenmäßigen Linien, der rudimentäre Kontrapunkt, die Sprödigkeit der Klangfarben und ihre eigenwillige Kombination, eine generell asketische Haltung und eben der Bezug zur orthodoxen Liturgie, zum »snamenyj raspew« – sind aber überaus charakteristisch für die Musik von Galina Ustwolskaja. Das zeigt sich nicht nur in den wenigen abstrakt betitelten Werken (Sonaten, Duo, Trio, Oktett), die vor 1974, vor der Entstehung der ersten Hymne, uraufgeführt und gedruckt wurden, sondern vor allem in den drei mit »Komposition« überschriebenen Stücke, die alle mit liturgischen Untertiteln versehen sind (der ersten, Dona nobis pacem, liegt nachweislich ein Zitat aus Uspenskijs Sammlung zugrunde), und in ihren später vollendeten Symphonien, die Worte von Hermanus Contractus verwenden und auch im Titel tragen. Die ersten beiden »Kompositionen« wurden vor Schnittkes erster Hymne vollendet, aber später uraufgeführt und gedruckt. Es ist relativ unwahrscheinlich, daß Schnittke Ustwolskajas Musik gekannt hat,13

13 Gegenüber Iwaschkin sagte Schnittke, bezogen auf die 1970er Jahre: »Ich kenne sie leider nicht und habe ihre Musik kaum gehört. Valentin Silverstrow lobte eines ihrer Werke sehr, was bei ihm höchst selten vorkommt. Ich glaube, es ging um irgendein Werk von Ustwolskaja für acht Kontrabässe, Klavier und Holzkiste, das nach Silverstrows Worten außerordentlich asketisch wirkt; selbst die Kiste löse keinen Schock aus, sie mache im Gegenteil einen ernsthaften Eindruck.« (Iwaschkin, S. 128) Die Rede ist von »Komposition« Nr. 2, Dies irae, die am 14. Dezember 1977 in Leningrad uraufgeführt wurde.
und um so erstaunlicher, daß er zu einem ähnlichen Stil findet in dem Augenblick, wo er zur orthodoxen Liturgie greift.

Vollkommen anders geht Schnittke mit orthodoxen Melodien in seinem zweiten Streichquartett um. Das Werk ist dem Andenken an die Regisseurin Larissa Schepitko gewidmet, die 1979 bei einem Autounfall ums Leben kam. Schnittke war mit ihr und ihrem Mann, Elem Klimov, gut bekannt; er hat mehrere Filmmusiken für die beiden geschrieben.14

14 Für Schepitko; Du und ich, 1971, Der Aufstieg, 1976, Abschied von Matjora , 1980 (gemeinsam mit Elem Klimov, während der Dreharbeiten zu diesem Film kam sie ums Leben) und Klimovs Dokumentarfilm über die Regisseurin, Larissa, 1980.
In seinem Kommentar zu dem Quartett hebt Schnittke selbst hervor, daß »fast das gesamte Tonmaterial

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