- 123 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Imitation. Butterflys Abschied, textlich zum Kind gesprochen, ist der hysterische Aufschrei einer Kulturexistenz, die keinen anderen Ausweg als die Eigenvernichtung sieht – kein liebender Dialog, sondern dramatische Beschreibung der unmittelbar folgenden Katastrophe.

Ganz anders Giuseppe Verdi in seiner Oper Otello , 1887 in Mailand uraufgeführt. Auch hier hätte es einen Zusammenprall zweier Kulturen geben können, wörtlich von Schwarz und Weiß. Und auch hier wäre ein hysterisch schreiendes Ende denkbar gewesen. Nicht so bei Giuseppe Verdi. Er koppelt den körperlichen Tod – das Verlöschen nach einem Dolchstich – mit dem doppelten Versagen als Liebender und als gesellschaftliche Leitfigur. Verdi komponiert die Empfindung des Sterbenden, der auch in der aktiven Untat nichts erreicht und alles verloren hat. Schwerer noch als der Verlust seiner Existenz wiegt der von Sinn. Was bleibt, ist die Erinnerung, die musikalisch von den Celli und Holzbläsern verkörpert wird, umgeben von einem Schleier der Harmonie, von flächenhaften Nebeln, die sich im Nichts auflösen. Ein Augenblick, den allerdings normale Opernbesucher kaum ertragen können und vermutlich deswegen durch lauten Beifall stören.

Vincenzo Bellini, der nur 34jährig 1835 in Puteaux bei Paris starb, schickte seine Norma in der gleichnamigen Oper inmitten eines klassischen Finales auf den Scheiterhaufen. In dieser Szene läßt Bellini die Höhepunkte der Oper noch einmal Revue passieren. Dies geschieht nicht etwa in Form des musikalischen Zitats, sondern durch musikalische Assoziationen: die Solostimme der Norma, jetzt in einen Verzeihensgesang eingebettet, die Massierung des Chores, die Überhöhung des Tenors und die Kraft der Vaterrolle. Was dieses Finale allerdings von allen anderen der Zeit heraushebt, ist eine großartige Sequenzkette im Orchester, die in ihrer Verdichtung vermutlich Richard Wagner zu seinem ekstatischen Liebesduett in Tristan und Isolde animiert haben dürfte und zur damaligen Zeit eine noch nie gehörte Sensation darstellte. Hier wird der Selbstmord zu einem abstrakten Ereignis, dessen Vor- und Nachspiel gleichsam synchron übereinandergeschichtet ist. Die eigentliche Tat wird nur kommentierend erfahrbar und dies nicht einmal von der Betroffenen, deren Bittszene auch an eine beliebige andere Stelle der Oper montierbar wäre, ohne daß selbst dem aufmerksamen Hörer auch nur der Gedanke an einen Suizid käme. Bellini verweigert gewissermaßen die eigene Meinung zum Thema, läßt formalen Höhepunkt Höhepunkt sein und Steigerung Steigerung, signalisiert ein Ende, wobei ihm scheinbar gleichgültig ist, welches Ende die komplizierte Situation findet. Der Selbstmord ist der gordische Knoten, aber nur inhaltlich. Musikalisch ist es der Schlußpunkt eines durch Steigerung verdichteten Finales.

Literarisch wäre bei Richard Wagner eigentlich immer daran zu zweifeln, welchen Zweck ein Selbstmord im Gesamtgeschehen erfüllt, welche Art der


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