- 122 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Tatsächlich schälen sich denn auch nach einer nach musikalischen Kriterien vorgenommenen Systematisierung vier zentrale Interpretationen des Selbstmords heraus, die allesamt an Opernbeispielen zu belegen wären, weil, wenn auch gelegentlich im Lied oder in autonomen Kompositionen angesprochen, die Beweiskraft dort nicht jene Erhärtung erfährt, die die Oper in ihrer Verbindung von Wort und Musik liefert. Verblüffenderweise sind bis auf wenige Ausnahmen die Kategorien fast (musik-)historisch determinierbar. So zeigt sich, daß der bewußte Selbstmord eine Argumentation des 19. Jahrhunderts ist und vorher nur in der eher verhüllten Form der Erlösungsalternative oder noch typischer als Ankündigung mit offenem Ende komponiert scheint.

1 Der Suizid als bewußter Vollzug

Selbsttötung dieser Kategorie soll als Endpunkt eines verlorenen Kampfes verstanden werden. Als Reaktion auf ein vertanes Leben, gleichgültig, ob selbst gestaltet oder von außen aufgezwungen. Oder auch als unausweichliches Finale. Erzähltechnisch fungiert der Selbstmord hier als Schlußformel einer Handlung – nahezu alle Beispiele für diese Form des Suizids stehen am Ende eines Werkes. Deren repräsentativstes vielleicht ist der Schluß von Puccinis Madame Butterfly, wenn sich die Titelheldin Cho-Cho-San in der Schmach verlorener Ehre japanisch-harakirisch in den Dolch stürzt.

In Wirklichkeit hat Giacomo Puccini mit dieser Oper nicht jene billige Trivialgeschichte geschrieben, die ihm Kritiker immer wieder vorwarfen, sondern, bewußt oder unbewußt, ein zentrales Problem des 20. Jahrhunderts musikalisch angesprochen: den Konflikt verschiedener Kulturkreise mit letalem Ausgang für den imperialistisch dominierten. Dies mag auch ein Grund für jenes ›Danteske Inferno‹ bei der Uraufführung am 17. Februar 1904 in Mailand gewesen sein, das Puccini schwer verstörte und ihn sieben lange Jahre schweigen ließ. Musikalisch ist diese Sicht des Dramas ganz offensichtlich, denn Puccini hat eine Reihe originaler japanischer Lieder in die Partitur der Butterfly eingewoben, sogar ein Bruchstück der japanischen Nationalhymne. Er hat darüber hinaus einen Vorschlag zur Integration geleistet, indem er mit eigenen melodischen Erfindungen das japanische Vorbild darstellen wollte, eine Art Parodieverfahren mit Bitonalität und viel Pentatonik. In der Instrumentierung wählte Puccini Charakteristika der Holzbläser, Glocken und Gongs. Daß er damit vor dem strengen Kunstgericht der Musikgeschichte scheitern mußte, ist ebenso offensichtlich. Denn dieses Modell der Vermischung kultureller Traditionen aus der Distanz verschiedener Kulturkreise ist noch niemals gelungen und resultierte immer in der Banalität der gewollten


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