- 119 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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Manfred Wagner

»Weil mich nichts zurückhält – gute Nacht, du falsche Welt.«
Zum Suizid in der Musik

1984 unternahm ich den Versuch, in einem Essay für die Frankfurt Feste den Tod in der Kunst zu beschreiben. Am Schluß dieser Untersuchung fand ich zum Untertitel »Notizen zu einem banalen Problem« zurück, weil verblüffenderweise das Resümee der Arbeit darin bestand, daß der Tod als klinisch-medizinisches Ereignis für die Kunst – gleichgültig in welchem Medium – weit weniger wichtig war als beispielsweise das Thema Mariae Verkündigung. Wichtig waren vielmehr jene Phänomene, die ihn als Umwandler des Seinszustandes beschreiben. Die Systematisierung dieser Phänomene ergab damals Kategorien, wie der Tod als Straffolge der Sünde, der Tod als Geheimnis, als allgemeine Gültigkeit, als Trennung von Leib und Seele, als Dokument der menschlichen Existenz und, mit ganz wenigen Belegstücken, der Tod als reales Abbild der Wirklichkeit.

Die Argumente für diese Systematik, die auf die Medien Sprache, Bild und Ton Anwendung fanden, ließen sich in der uns vertrauten Musikgeschichte an repräsentativen Stellen unschwer belegen. Am vielleicht verbreitetsten ist der Beleg für jene sozialen Konsequenzen, die der Tod eines Menschen in seinem sozialen Umfeld auslöst. Dies ist abzulesen an der Klage um den Verlust, quasi die Inkarnation des Schmerzes, die aus dem auch von der Psychologie bestätigten vehementesten Einbruch in die Stabilität des eigenen Seins auftritt. Orfeo weint, schreit, klagt und zieht alle Register der Schmerzdarstellung, als er den Tod seiner geliebten Eurydice wahrnehmen muß. Monteverdi riß damit mit einem Schlag das Tor zu einem Expressionismus auf, der in dieser Stärke wohl auch nicht vom Verismo des 19. Jahrhunderts übertroffen wurde.

Wolfgang Amadeus Mozart, der wie kein anderer Komponist alle menschlichen Seins- und Erlebnisformen, Charakterzüge und Sozialstrategien überzeugend auf der Opernbühne formulierte, legte seine Position gegenüber dem Tod nicht nur in einer Reihe von Briefen fest, sondern diskutierte auf der Folie des Requiem-Textes die Schattierungen des Todeserlebnisses, wie es später eigentlich nur noch sein ›Bruder im Geiste‹ Giuseppe Verdi, ebenfalls im Requiem vollbrachte. Da setzt er die Tragik des Bassetthörnerklanges auf das Schmerzmotiv der Chromatik, die unerbittlich fortschreitende Zeituhr


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