- 103 -Müßgens, Bernhard / Gieseking, Martin / Kautny, Oliver (Hrsg.): Musik im Spektrum von Kultur und Gesellschaft 
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zum Menschen darf keine abgeleitet sein; sie muß zur ursprünglichen werden. Dann allein wird die Liebe eine wahre, heilige, zuverlässige Macht. Ist das Wesen des Menschen das höchste Wesen des Menschen, so muß auch praktisch das höchste und erste Gesetz die Liebe des Menschen zum Menschen sein. Homo homini Deus est – dies ist der oberste praktische Grundsatz – dies der Wendepunkt der Weltgeschichte.« (Feuerbach 1904, zit. nach von Soden 1980, 80)

In dieser Liebe des Menschen zum Menschen ist, so Feuerbach, die Wahrheit seiner Philosophie verbürgt, denn das »[...] Herz will keine abstrakten, keine metaphysischen oder theologischen – es will wirkliche, es will sinnliche Gegenstände und Wesen.« (ebd., 81)

4.2 Zur Beziehung Elsa - Lohengrin im Sinne Feuerbachs

Überträgt man Feuerbachs religionsphilosophische Ausführungen auf Wagners Lohengrin, so ergibt sich folgende Interpretation: In der Vereinigung des ›göttlichen‹ Lohengrin mit der ›menschlichen‹ Elsa wird der im Christentum existierende Gegensatz von Leib und Seele, von Gott und Mensch aufgehoben. Lohengrin steigt, von Elsa angezogen, von seiner erhöhten Position herab auf die Erde. Der göttliche Lohengrin wird Mensch. Im Sinne Feuerbachs wird also die Existenz Gottes aufgegeben zugunsten der menschlichen Existenz. Lohengrin ist der ›Prototyp‹ der »Konzeption des autonomen, freien Menschen« Feuerbachs (von Soden 1980, 81). Er stellt »das entschiedene, zu Fleisch und Blut gewordene Bewußtsein, daß das Menschliche das Göttliche« ist, dar (Feuerbach 1966, 129).

Elsas Sehnen nach Lohengrin symbolisiert die Sehnsucht nach der Wiederherstellung der durch Feuerbach angenommenen, anfänglich vorhandenen, durch den geschichtlichen Prozess jedoch ins Gegenteil verkehrten Einheit von Geist und Natur, Leib und Seele, Mensch und Gott. Bedeutet für alle anderen, Ortrud, Telramund, den König und das Volk, Lohengrin die Epiphanie im herkömmlichen religiösen Sinne, so ist dies für Elsa anders. Sie ist auf Lohengrins Erscheinen vorbereitet, sie erst hat es ausgelöst und nur durch sie wurde es möglich. Nur scheinbar stimmt Elsa mit den herkömmlichen Traditionen der bestehenden Verhältnisse überein. Sie stellt sich dem gerichtlichen Prozess. Doch tatsächlich tritt sie der Tradition – durch ihr Schweigen vor Gericht – in Opposition gegenüber. Damit verneint sie die bestehenden Normen und Konventionen. Sie verweigert sich einer für sie defizitären Gesellschaft (vgl. von Soden 1980, 98– 99).


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