- 162 -Müßgens, Bernhard: Musik und Angst 
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Tonskala innerhalb der Quinte. Sie führt zum Ausgangspunkt der melodischen Bewegung zurück. Das Zögern des Kindes veranschaulichen im Mittelteil Tonwiederholungen. Die sich anschließenden aufwärtsgeführten melodischen Sequenzen zeigen die Änderung der Perspektive des Kindes an. Es erinnert sich der Mutter, wendet sich im dritten Teil mit der abwärtsgeführten Melodie des ersten Teils von der "Welt" ab und kehrt mit der anschließenden aufwärtsgeführten Melodie zur Mutter zurück.

     Das gleiche Zusammenwirken von Melos und Bewegungsrichtung finden wir im ersten Lied aus Franz Schuberts Liederzyklus Winterreise opus 89 mit dem Titel "Gute Nacht" (Beispiel S. 163). Der Satz ist "mässig, in gehender Bewegung" überschrieben. Die Achtelbewegung der Klavierstimme charakterisiert die gleichförmige Schrittfolge eines Wanderers auf der Flucht vor dem Erlebnis einer bitter enttäuschten Liebe. Die einleitende, abwärtsgerichtete Viertonfolge in der Melodiestimme des Klaviers wird rhythmisch variiert (Auftakt zu Takt 3), auf drei Melodietöne begrenzt (Auftakt zu Takt 4) und zu Beginn der Schlußkadenz (ab Takt 5) durch Oktaven verstärkt auf die fallende Quart reduziert. Während der Wanderer vor der Erinnerung an die Vergangenheit flieht, führt die Singstimme die abwärtsgerichtete melodische Bewegung des Klaviervorspiels fort. Die Zuwendung zur tröstlichen Erinnerung ("Das  Mädchen sprach von Liebe, die Mutter gar von Eh', ...") und zur Natur ("Es zieht ein Mondenschatten als mein Gefährte mit, ...") erhält eine melodische Aufwärtsbewegung sowie eine Aufhellung von d-Moll nach F-Dur. Im Lied "Ich bin der Welt abhanden gekommen" verwendet Gustav Mahler die melodische Aufwärtsbewegung als Kontrapunkt zum Text (Beispiel S. 164). Die aufwärtsgerichtete pentatonische Folge steht für die innere Zuwendung zum Sein in der Vereinzelung. Die Viertonfolge, die bei Schubert den Ausgangspunkt der kleinen melodischen Entwicklung der Einleitung bildet, steht bei Mahler am Ende der das Lied einleitenden, noch zögernden melodischen Entwicklung. Bei Schubert begegnet die Einsamkeit als Ursache äußerster Verzweiflung, bei Mahler als Beginn der Erkenntnis personaler Freiheit.


Beispiel  S. 163: Franz Schubert. Winterreise opus 89. 110.


Beispiel  S. 164: Gustav Mahler. Sieben Lieder nach Gedichten aus Des Knaben Wunderhorn von Friedrich Rückert. "Ich bin der Welt abhanden gekommen". 72-73.


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