- 433 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Expressivität einbüßt. Im Gegenteil: durch die syntaktische Stringenz, mit der Malle das Schubert-Zitat einsetzt, erzieht er den Zuschauer zum aufmerksamen Hören. So genügen im Endeffekt gerade einmal zehn Töne des Moment Musicals, um dem Zuschauer Juliens gegenwärtige Gefühle gegenüber seinem Mitschüler Bonnet zu verdeutlichen und darüber hinaus die emotionalen Grundbefindlichkeiten des Films die gesamte Dramaturgie hindurch aufrecht zu erhalten. Durch ihre syntaktische Verläßlichkeit bildet die Musik Schuberts zusammen mit den anderen erwähnten Zitaten einen dramaturgischen Spannungsbogen, der die Entwicklung der Beziehung der beiden Charaktere Quentin und Bonnet begleitet, illustriert und kommentiert. Dabei sagt die Musik mehr aus als jedes gesprochene Wort. Lediglich für wenige Szenen aufgespart ist sie umso präsenter. Sie funktioniert, ohne viel Raum zu beanspruchen, ohne aufdringlich zu sein. Damit erfährt sie eine Präzision, die kein Filmorchester in vergleichbarer Art aufbringen könnte. Das Zitat hingegen kann in Funktion und Wirkung auf seinen semantischen Vorrat zurückgreifen. Der Film bedarf keiner orchestralen Ausschweifungen. So genügen im Endeffekt nur einige schlichte »Musiktropfen«, um den Szenen den emotionalen Schliff zu geben.

An diesem Film zeigt sich einmal mehr, wie sehr die Grenzen zwischen filmmusikalischen Funktionszuweisungen schwimmen können. Indem die Musik syntaktisch gesehen präsent ist, erfüllt sie gleichzeitig – und gerade dadurch – die psychologische Funktion, Emotionalität affirmativ widerzuspiegeln. Die für Malle so typisch subtile Semantisierung des Zitats durch den Film weist im Falle von Auf Wiedersehen, Kinder auf seinen ursprünglichen Kontext zurück. Es geht stets um die feinsinnige psychologische Charakterzeichnung, der Grundton des gesamten Films ist melancholisch und wird vom Moment des wehmütigen Abschieds kontinuierlich überschattet. Lediglich die Musik von Saint-Saëns oder der amerikanische Boogie-Woogie bieten kurzweilige Momente der atmosphärischen Aufhellung. Insofern nutzt Malle die dem Moment Musical immanenten semantischen und expressiven Möglichkeiten. Er verzichtet jedoch – ähnlich wie bei Lacombe, Lucien oder Atlantic City, U.S.A. – auf eine offenkundige Wertung. Sein Film ist wie die Musik ein Mittel der Anspielung. Dabei spricht die Musik für sich, sie erhält jedoch – wie der Film – kein prägendes Urteil.


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