- 310 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Symbiose erreicht er durch die Stringenz seiner Bildfolgen, durch Rückblenden und Bilder der Gegenwart, die zusammen mit der Musik Mahlers so verknüpft werden, daß ein Netz von neuen semantischen Beziehungen aufscheint. Dieses umgreift das durch die Novelle vorgegebene Bedeutungsgewebe und erweitert es zugleich durch seine ihm eigenen filmischen Mittel. Damit illustriert Visconti ein Regieverfahren, das für den Autorenfilmer bezeichnend ist. Die Figuren seiner Dramaturgie verlangen die geschärfte Aufmerksamkeit des Zuschauers, da sie verschiedenen Kontexten entstammen. Es war nicht Viscontis Anliegen, durch Manns Novelle zum »Vollstrecker fremder Phantasie« zu werden. Ebensowenig wird er durch den Film zum Verfilmer fremder Biographien. Wenn Visconti ausschließlich einen Film über die Person Gustav Mahlers hätte drehen wollen, wie Eggebrecht mit seiner Kritik andeutet oder im Brief unterstellt wird, so wäre sicherlich ein Film entstanden wie etwa Russels Tschaikowski – Genie und Wahnsinn (GB 1970) oder schlichtweg eine Dokumentation. Jeglicher Rückgriff auf Manns literarisches Werk wäre mehr als überflüssig gewesen. Da er jedoch im Vorspann ausdrücklich die literarische Quelle Manns erwähnt, muß man in dem Film eine Literaturverfilmung sehen, welche ein Äquivalent zum literarischen Klassiker darstellt. Die Äquivalenz liegt in der cineastischen Freiheit des Regisseurs, schließlich bewegte Visconti sich hier im Genre des fiktionalen Films. Durch den Bezug zu Mann als auch zu Mahler schafft er als neorealistischer Regisseur etwas Neues, das seinen eigenen ästhetischen Gesetzen folgt und eine eigene Aussage hat. Die ihm eigenen Widersprüche zwischen intellektuellem Engagement und romantischer Verbundenheit spiegeln sich in Tod in Venedig wider. Der daraus folgende gesellschaftskritische Ansatz ist in seinem Film nicht zu übersehen. Visconti sichtet den Stoff Manns als auch die Biographie Mahlers aus der Perspektive der siebziger Jahre, aus der er die geschichtliche und dialektische Bedeutung der Quellen in den Wechselbeziehungen seiner Figuren sichtbar macht. Aschenbach entspricht dem Prototyp des Viscontischen Filmhelden: er ist ein Opfer des sich Leidenschaftlich-Verzehrenden der menschlichen Natur, an der er letztlich scheitert. Daß er scheitert, ist notwendig, da für ihn die Zeit abgelaufen ist. Der Abschied des Filmhelden ist stellvertretend für den Untergang einer ganzen Epoche, die mit dem Fin de Siècle ihren Höhepunkt erreicht und ihr Ende mit dem Ersten Weltkrieg vor Augen hat. Der Rückgriff auf Mahler ist zum einen aus musikdramaturgischer Hinsicht zu rechtfertigen, denn der Mahlerische Kontext wie auch die werkimmanente Bedeutung tragen zur Aussage Viscontis bei, als auch aus der historischen Perspektive, denn gesellschaftliche Dekadenz spiegelt sich – wie gezeigt wurde – ebenso in seinen Werken wider. Mahlers Vision des Geniekults des späten 19. Jahrhundert, Komponist des Bürgertums als auch der Zukunft findet ihre Entsprechung in Manns ästhetisch-literarischer Auffassung ebenso wie in Viscontis Vision von einer veränderten Welt. Insofern entbehrt der Vorwurf der Verfälschung »historischer Tatsachen« jeglicher Grundlage: Viscontis Quellen sollen sich in der Einheit des Films nicht gegenseitig verfälschen, sondern sich zu der cineastischen Aussage verdichten, ein realistisches Prinzip des Visconti-Kinos, das seitens der Mahler-Verehrer offenbar nicht erkannt wurde. So schafft Visconti durch den Bezug zu Mahler als auch Mann ein Gesellschaftsbild des Fin de Siècle, das in der Tat ein »anthropomorphes Kino« ist.

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