- 220 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Mann wie Lecter würde man nicht zutrauen, daß er menschliche »Leber genießt, dazu einen ausgezeichneten Chianti«. So wie Bach mit Brutalität faktisch zusammenprallt, stoßen auf übergeordneter Ebene moderne Gesellschaft und primitiver Ritus zusammen. Kannibalismus ist ein Phänomen der vorzivilatorischen Urzeit. Die Tatsache, daß Demme beide Erscheinungen miteinander kombiniert, läßt die Vermutung zu, daß er Lecters Kannibalismus als entarteten Auswuchs einer modernen Gesellschaft sieht. Ähnlich wie die Teufelsriten in Rosemaries Baby steht Lecters Neigung für eine Subkultur, mit der sich – auch gebildete – Menschen in den USA eine Art Gegenwelt oder »Stammeszugehörigkeit« schaffen wollen, die als Ausdruck des organisierten Protestes jenseits der gesellschaftlichen Normen liegt. In Rosemaries Baby zeigen sich bereits die ersten Auswüchse einer konsumorientierten Gesellschaft, die jedoch in den neunziger umso gravierender ausfallen. Es geht um die persönliche Identität jedes Einzelnen in einer Gesellschaft, die im allgemeinen Wert auf Vernunft, Logik, Berechnung, Kalkulierbarkeit, letztlich disziplinierte Leistung legt fern jeder innerlich emotionalen Befindlichkeit. Aus dieser Diskrepanz entstehen für viele Identitätsprobleme, die sich in eher harmloser Konsequenz an der Tatsache zeigen, daß nahezu jeder in den USA, der es sich finanziell leisten kann, regelmäßig beim Therapeuten auf der Couch liegt. In gravierenderen Fällen kann es zur Ausbildung obengenannter Subkulturen kommen, für die Lecter ein Repräsentant ist. Indem Bachs Goldberg-Variationen in dieser so beklemmend bestialischen Szene erklingen, gibt die Musik neben den Charakteren einen wichtigen Hinweis auf Demmes gespaltenes Gesellschaftsporträt.35
35 Vgl. auch Kap. 11.2.5.2.

In dieser Inszenierung liegt natürlich ein gewaltiges Potential an Neusemantisierung. Musikwissenschaftler mögen wieder einmal vor Entsetzen aufgeschrien haben: Bach als Inspiration zur absoluten Perversion! Natürlich wird Bach hier irgendwo in Richtung des ekelerregend Abnormen gedrängt, das die Grenzen des Zumutbaren bald übersteigt. Das Bild des kannibalistischen Massenmörders ist überdimensional, doch beachte man die Diskrepanz, welche die Musik nicht verkörpert, sondern auf sie durch den ihr immanenten Kontext lediglich hinweist. Man kann im Grunde nicht soweit gehen, von einem »Mißbrauch« des Komponisten zu sprechen, denn wie Mimik und Gestik der Charaktere ist auch die Musik ein eigenständiges dramaturgisches Mittel, das nur dem einen Zweck dient, nämlich die filmische Aussage des Regisseurs zu formulieren. In diesem Fall weist die Kultiviertheit Bachscher Klänge auf ihr im Grunde widersprechende vorzivilatorische Riten hin. Daß sich beide in einem Charakter vereinen, ist im wesentlichen ein genialer Schachzug der Regie und spricht im Grunde für die künstlerische Fähigkeit, historisches Material umzusetzen. Es liegt in der Natur des fiktiven Films, sich bereits vorhandener Codes zu bedienen, um neue Erkenntnisse welcher Art auch immer zu vermitteln. Warum sollte man also die Musik aussparen, wo sie doch eine, wenn nicht die Kunst mit dem höchsten Assoziationspotential ist? Will man die Musik Bachs auf den heiligen Sockel der historischen Unantastbarkeit stellen, so verweigert man ihr im Grunde eine zeitgenössische Rezeption, und dies kann nicht im Sinne des modernen Hörers sein. Darüber hinaus kann man auf eine mehr als 250-jährige Bach-Rezeption zurückblicken, deren Ästhetik ein Film wie Das Schweigen der Lämmer mit einer einzigen Szene nicht umstürzen wird. Der Regisseur demonstriert hier lediglich ein


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