Überall
hört man seit Sommer 2002 – in dezenter Lautstärke – »klassische Meisterwerke der
großen Komponisten, interpretiert von berühmten Orchestern und Interpreten, Tempo:
leicht/mittel«4
Aus der Werbebroschüre der Firma Muzak, 2000. Vgl. Kapitel 4.3.
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,
eine letztlich wohl von den meisten Passanten und Fahrgästen als harmonisch und
beruhigend empfundene Hintergrundmusik. Bei der Bahn hat man beobachtet,
dass die »Aufenthaltsqualität längerer Aufenthalte« gesunken ist. Eine noch zu
überprüfende These wäre, ob funktionelle Hintergrundmusik im öffentlichen
Raum generell die allgemeine Aufenthaltsdauer senkt. Dies steht nur in
scheinbarem Widerspruch zu ihrem gleichzeitigen Einsatz z. B. in Kaufhäusern, wo
sie in der Regel den Aufenthalt der Kunden verlängern soll. Ein allzu langer
Aufenthalt ist wohl auch hier nicht unbedingt von Interesse, in Stoßzeiten
kann die Musik auch zu einer »Beschleunigung« der Kundenströme genutzt
werden.5
Auch der klassischen Musik selbst bzw. all den aktiven klassisch geschulten Musikern wird
durch die vorliegende Vermittlungsweise eher ein Bärendienst erwiesen. Es ist sehr fraglich, ob
die Klassik-Beschallung der Musik neue Hörer in den Konzertsälen beschert. Wenn man jedoch
das neue Selbstverständnis der Firma Muzak beim Worte nimmt (»shaping the way music is
heard«6 ),
so kann sie – Julian Johnsons Argumentation folgend – dazu beitragen, jene
Sichtweise weiter zu befördern, die dadurch geprägt ist, klassische Musik
lediglich als eine »kulturelle Option« unter vielen zu verstehen und all jene
spezifischen Eigenschaften, die sie als Kunstmusik erst auszeichnen, völlig zu
ignorieren.7
Ausdruck davon ist auch der verallgemeinerte Klassik-Begriff. Vgl. Kapitel 6.1.1.
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Dies kann möglicherweise dazu beitragen, der Legitimation für
die Förderung durch die öffentliche Hand weiter den Boden zu
entziehen.8
Das Dilemma ist auch eine Herausforderung für die Musikpädagogik: Die
wohl große Akzeptanz gegenüber der Beschallung als nettem Service der
Verkehrsbetriebe9
Vgl. auch MVG-Umfrage, Kapitel 2.1.
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(aber auch der Erfolg von Klassik-Radio) zeigt, dass die Musik, befreit vom »Ballast«
des tradierten soziokulturellen Umfeldes bzw. ohne allzu viele Begleitinformationen,
durchaus an Popularität zu gewinnen vermag. Die Kehrseite dieser neuen Popularität ist
jedoch, dass Klassik dabei meist zu »Klassik light« gerät und kaum anders rezipiert wird
als Popmusik. Die einzige Gruppe, deren Vertreibung durch die Beschallung(en) wirklich
zu belegen ist, sind die Straßenmusiker. Straßenmusik ist auch einer der wenigen
Anlässe, in einem öffentlichen Raum wie U-Bahnhof oder Bahnhofsvorplatz
möglicherweise etwas länger zu verweilen als nötig. Hier übt die Beschallung
eindeutig eine konkrete Kontrollfunktion aus, da sie diese Möglichkeit ganz
ausschließt.
Am Ende dieser Arbeit steht ein daher etwas anachronistisch anmutender
Vorschlag. Wenn es der DB AG wirklich ernst ist mit dem Vorhaben, die
Aufenthaltsfunktion der Bahnhofsvorplätze zu verstärken, dann sollte vielleicht darüber
nachgedacht werden, anstatt eine anonyme Dauerbeschallung laufen zu lassen,
lieber gezielt Orchestermusiker zu engagieren, die – in Form von Solisten oder
kleinen Ensembles – eine tatsächliche »Begrüßung der Fahrgäste« gewährleisten
könnten.10
Dieser Vorschlag besitzt durchaus auch eine soziale Komponente, angesichts des
Planstellenschwunds, der in den Deutschen Kulturorchestern während der letzten zehn Jahre
zu beobachten ist; Vgl. Mertens (2002) S. 45–47.
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Das würde auch die klassische Musik sicher von dem Verdacht befreien, hier
eine
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