- 98 -Klußmann, Jörg: Musik im öffentlichen Raum 
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Überall hört man seit Sommer 2002 – in dezenter Lautstärke – »klassische Meisterwerke der großen Komponisten, interpretiert von berühmten Orchestern und Interpreten, Tempo: leicht/mittel«4
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Aus der Werbebroschüre der Firma Muzak, 2000. Vgl. Kapitel 4.3.
, eine letztlich wohl von den meisten Passanten und Fahrgästen als harmonisch und beruhigend empfundene Hintergrundmusik. Bei der Bahn hat man beobachtet, dass die »Aufenthaltsqualität längerer Aufenthalte« gesunken ist. Eine noch zu überprüfende These wäre, ob funktionelle Hintergrundmusik im öffentlichen Raum generell die allgemeine Aufenthaltsdauer senkt. Dies steht nur in scheinbarem Widerspruch zu ihrem gleichzeitigen Einsatz z. B. in Kaufhäusern, wo sie in der Regel den Aufenthalt der Kunden verlängern soll. Ein allzu langer Aufenthalt ist wohl auch hier nicht unbedingt von Interesse, in Stoßzeiten kann die Musik auch zu einer »Beschleunigung« der Kundenströme genutzt werden.5
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Vgl. Kapitel 4.2.3.

Auch der klassischen Musik selbst bzw. all den aktiven klassisch geschulten Musikern wird durch die vorliegende Vermittlungsweise eher ein Bärendienst erwiesen. Es ist sehr fraglich, ob die Klassik-Beschallung der Musik neue Hörer in den Konzertsälen beschert. Wenn man jedoch das neue Selbstverständnis der Firma Muzak beim Worte nimmt (»shaping the way music is heard«6

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Vgl. Kapitel 4.3.
), so kann sie – Julian Johnsons Argumentation folgend – dazu beitragen, jene Sichtweise weiter zu befördern, die dadurch geprägt ist, klassische Musik lediglich als eine »kulturelle Option« unter vielen zu verstehen und all jene spezifischen Eigenschaften, die sie als Kunstmusik erst auszeichnen, völlig zu ignorieren.7
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Ausdruck davon ist auch der verallgemeinerte Klassik-Begriff. Vgl. Kapitel 6.1.1.
Dies kann möglicherweise dazu beitragen, der Legitimation für die Förderung durch die öffentliche Hand weiter den Boden zu entziehen.8
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Vgl. Jourdain (2002).
Das Dilemma ist auch eine Herausforderung für die Musikpädagogik: Die wohl große Akzeptanz gegenüber der Beschallung als nettem Service der Verkehrsbetriebe9
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Vgl. auch MVG-Umfrage, Kapitel 2.1.
(aber auch der Erfolg von Klassik-Radio) zeigt, dass die Musik, befreit vom »Ballast« des tradierten soziokulturellen Umfeldes bzw. ohne allzu viele Begleitinformationen, durchaus an Popularität zu gewinnen vermag. Die Kehrseite dieser neuen Popularität ist jedoch, dass Klassik dabei meist zu »Klassik light« gerät und kaum anders rezipiert wird als Popmusik. Die einzige Gruppe, deren Vertreibung durch die Beschallung(en) wirklich zu belegen ist, sind die Straßenmusiker. Straßenmusik ist auch einer der wenigen Anlässe, in einem öffentlichen Raum wie U-Bahnhof oder Bahnhofsvorplatz möglicherweise etwas länger zu verweilen als nötig. Hier übt die Beschallung eindeutig eine konkrete Kontrollfunktion aus, da sie diese Möglichkeit ganz ausschließt.

Am Ende dieser Arbeit steht ein daher etwas anachronistisch anmutender Vorschlag. Wenn es der DB AG wirklich ernst ist mit dem Vorhaben, die Aufenthaltsfunktion der Bahnhofsvorplätze zu verstärken, dann sollte vielleicht darüber nachgedacht werden, anstatt eine anonyme Dauerbeschallung laufen zu lassen, lieber gezielt Orchestermusiker zu engagieren, die – in Form von Solisten oder kleinen Ensembles – eine tatsächliche »Begrüßung der Fahrgäste« gewährleisten könnten.10

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Dieser Vorschlag besitzt durchaus auch eine soziale Komponente, angesichts des Planstellenschwunds, der in den Deutschen Kulturorchestern während der letzten zehn Jahre zu beobachten ist; Vgl. Mertens (2002) S. 45–47.
Das würde auch die klassische Musik sicher von dem Verdacht befreien, hier eine

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