5. Exkurs: Mythos Musikwirkung – der »Mozart-Effekt«
In diesem Exkurs soll anhand eines anderen Beispiels verdeutlicht werden,
wie bereitwillig (Vor-)Urteile über Musik und ihren pragmatischen Wert
akzeptiert, verbreitet und kommerzialisiert werden. Auch in diesem Fall
geht es um Ordnung, allerdings nicht auf einem öffentlichen Platz, sondern
auf neurophysiologischer Ebene. 1993 untersuchten Rauscher, Shaw und
Ky1
Vgl. Rauscher, Shaw, G.L. and Ky, K.N.: Listening to Mozart enhances spatial-temporal
reasoning: towards a neurophysical basis, in: Nature, 365, 611.
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an der
University of California (Irvine) den Einfluss von Musik auf das raumzeitliche Denkvermögen. 36
Studenten lösten dazu unter verschiedenen Bedingungen Aufgaben, die den Standards gängiger
IQ-Tests2
Die Aufgabe, die die signifikantesten Ergebnisse hervorbrachte, bestand darin, sich
vorzustellen, ein Blatt Papier zu falten, mit einer Schere Muster hereinzuschneiden, um
anschließend Aussagen zu treffen über das Muster, das bei dem Auseinanderfalten des Blattes
entstehen würde. Die möglichen Ergebnisse waren als Multiple-Choice-Antworten sichtbar.
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entsprachen. Es wurden insgesamt drei 10-minütige Tests durchgeführt, an denen jeweils
alle Studenten teilnahmen:
- Im Hintergrund lief Mozarts Sonate für zwei Pianos in D-Dur KV 488.
- Im Hintergrund lief ein Tape mit Entspannungsübungen und Musik von Phillip
Glass.
- Es herrschte Stille.
Die Ergebnisse der Tests unter der Bedingung 1 (Mozart-Sonate) fielen signifikant besser
aus, im Durchschnitt lag der daraus errechnete IQ 8–9 Punkte höher als unter den
anderen Bedingungen. Das entspricht einer Steigerung von etwa 36 %. Rauscher, Shaw
und Ky erklärten dieses Ergebnis mit der hohen Komplexität der Mozart-Sonate. Die
kognitive Verarbeitung des Gehörten geschehe demnach in Hirnregionen, in
denen Neurologen auch raum-zeitliches Denken lokalisieren. Die »akustische
Stimulanz« dieser Regionen führe zu der Leistungssteigerung, die allerdings nur von
temporärer Natur sei (etwa 15 Minuten lang). Damit berufen sie sich auf das sog.
»Trion«-Modell3
Vgl. dazu Leng, X., & Shaw, G. L.: Toward a Neural Theory of Higher Brain Function Using
Music as a Window. Concepts in Neuroscience, 2,1991, S. 229–258.
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,
einer mathematischen Erfassung des Konzeptes des zerebralen Kortex nach
Mountcastle.4
Mountcastle, V. B.: The Columnar Organization of the Neocortex, Brain,120, 1997, S.
701–722.
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Darüber hinaus leiteten sie aus dem Ergebnis die These ab, dass weniger komplexe Musik
(insbesondere repetitive Musik) den gegenteiligen Effekt zeigen würde, also raum-zeitliches
Denkvermögen schwäche. In den darauf folgenden Jahren konnten einige Studien unter geänderten
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