- 97 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Theorie und Praxis der Musik 
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leiser, länger oder kürzer gespielt werden soll. Umgekehrt rächt sich der Musikwissenschaftler mit Geringschätzung einer bestimmten Interpretation, vor allem wenn ein Interpret etwa die von ihm rekonstruierten metronomischen Tempi ignoriert oder eine von ihm mühsam herausgefundene Motivbeziehung glattweg übersehen hat. (Daß sich im Hinblick auf Interpretationsfragen im Bereich der historischen Musikwissenschaft in jüngster Zeit doch einiges geändert hat, sei nicht verschwiegen!)


Seinen sachlichen Grund hat dieses wechselseitige Aneinandervorbeireden vor allem in dem Umstand, daß die historische Musikwissenschaft dazu tendierte, sich überwiegend mit den Musikwerken als einer Art von tektonischen Gesamtgebilden zu beschäftigen und nicht als einen – wie es dem Interpreten naheliegt – jeweils in der Zeit ablaufenden Prozeß, bei dem es wesentlich auch auf die Beziehung zwischen dem jeweiligen zeitlichen „Jetzt“ im Verlauf des Spiels und dem unmittelbar vorhergegangenen und unmittelbar folgenden Abschnitt ankommt, die es interpretatorisch zu gestalten gilt.2

2 Dies heißt natürlich nicht, daß der Interpret die Einbindung einer Stelle in eine größere Formanlage außer acht lassen kann: auch für die Gesamtanlage müssen Konzeptionen erarbeitet werden.

(Daß sich auch in diesem Punkt in jüngster Zeit doch einiges – vor allem in der angelsächsischen, an musikpsychologischen Fragen orientierten Literatur – geändert hat, sei ebenfalls nicht verschwiegen!)


Bleibt also die Zuordnung der G-Moll-Ballade zur wie auch immer modifizierten Sonatenform für den Interpreten eher zweitrangig, so gälte dies nicht mehr für eine andere Einordnung eines konkreten Einzelgebildes in ein anderes vorgeordnetes Schema, nämlich für die Zuordnung eines musikalischen Verlaufs bzw. einer Satzstruktur zu einem bestimmten Musiktypus, wie es im Hinblick auf den Gattungstypus Walzer bei Chopins Balladen verschiedentlich – zumeist unter beleghafter Gegenüberstellung der Takte 137 ff. und Ausschnitten aus dessen Walzer op. 34 – erfolgt ist3

3 Vgl. etwa Wieslaw Lisecki, Ballada F. Chopina – inspiracje literackie czy muzyczne?, in: Rocznik Chopinowski 19 (1987), S. 249 oder Jim Samson, Chopin: The Four Ballades, Cambridge, New York u. Melbourne: Cambridge University Press 1992 (= Cambridge Music Handbooks; o. Nr.), S. 9.

: einen Werkteil als Walzer oder Quasi-Walzer-Zitat aufzufassen hat für die Mikrozeitgestaltung – einfacher gesagt: für die Agogik –durchaus Konsequenzen4
4 Zur mikrozeitlichen Gestaltung beim Walzer, vgl. vom Verfasser, Musikalische Analyse und ihre Darstellung mittels kommerzieller Sequencer- und Composersoftware, in: Neue Musiktechnologie. Vorträge und Berichte vom KlangArt-Kongreß 1991 an der Universität Osnabrück, Fachbreich Erziehungs- und Kulturwissenschaften, hg. von Bernd Enders unter Mitarbeit von Stefan Hanheide, Mainz usw.: Schott 1993, S. 304 f.

, denn dies machte auch die walzertypische Ungleichheit der drei Zählzeiten eines Taktes geltend. Letztlich aber ist die Entscheidung, ob ein Walzer oder Walzerartiges vorliegt, eine Interpretenentscheidung, die aus der

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