- 403 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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ohne daß Wilhelm es hätte verhindern, geschweige denn ihm folgen oder des ihm unentbehrlichen Werkzeuges hätte wieder habhaft werden können.

Trübe ward sein Sinn. Denn humpelnd, ohne Stock, würde er W. . . heute nicht mehr erreichen. Er wankte in das nahe Weidengebüsch, sich einen neuen Stock zu brechen. Und da kam es über ihn: Mit dem Wanderstab war ihm auch die besondere Form des neuen Akkordes abhanden gekommen. Wie er auch grübelte und nachsann – sie wollte ihm nicht einfallen. Er stürzte nieder und wand sich weinend im Grase, und wie er eindämmern wollte, rauschte der Bach neben seinem Kopfe. Der Mond war schon gekommen, die Sternlein hinterdrein, und so schaute er unter Schmerzen in den silbernen Spiegel hinein.

Nichts hatte er nun mehr als Mitbringsel für seinen ihm noch unbekannten Ohm, den im ganzen Lande gerühmten Kalkanten und Rastralmacher Johann Hindukusch Eygelb, den »Bezwinger der Bälge«, wie er bewundernd genannt wurde. Wilhelm schlief unter Tränen am Ufer ein, und ihm träumte, ein krasser bolivianischer Außenseiter habe den Giro d’Italia gewonnen, und zwar im Spurt. Er schreckte im Mondlicht auf und wußte nicht, was er mit den fremden Worten anfangen sollte. So sprang er auf und eilte an seinem Weidenstengel weiter fort. Das Bein schmerzte, und der Akkord blieb aus. Nur der Dur-Dreiklang auf der kleinen Obersekunde zeigte sich immer wieder, irrlichternd und wie aus Schadenfreude. »Verfluchter Neapolitaner!«, brachte Wilhelm zwischen den Zähnen hervor und keuchte weiter.

* * *

Das Städtchen W. . . hatte sich herausgeputzt, um die Rückkehr seines großen Sohnes würdig zu begehen. »Zwar ist er nicht hier geboren, sondern nur ein Teil seiner Vorfahren, auch weiß er nicht, daß wir von seiner Ankunft Kenntnis haben, aber es darf uns dennoch keine Möglichkeit entgehen, die Reputation unseres Ortes zu vernachlässigen«, sagte in bewährter Gewichtigkeit und Wortgewandtheit der Bürgermeister, ein stattlicher Mann und Sattlermeister mit Namen Johann Leberecht Stiefel, als der bunt geschmückte Zug auf den Ruf des Türmers vor die Tore gelangte, welcher gemeldet hatte, am Fuße der Berge sei ein Punkt auszumachen, der sich allmählich in die Richtung auf W. . . zubewege. Auch der Ohm Eygelb schwankte im Zuge mit, so schweren Herzens er sich auch von den Bälgen getrennt hatte. »Es muß sein!«, hatte ihn sein treues Weib Elfriede immer wieder bestürmt, bis er endlich ächzend und schnaubend von seinem Kalkantenturme herabgestiegen war. »Nun denn, wenn es des Höchsten Wille ist, so will ich mich bequemen und ihn empfangen, diese Hoffnung unseres Landes, dieses Licht in der Nacht, den Erlöser des Septen-Akkordes.« So hatte er gesprochen und mit seinem schwerleinenen Sacktuche die Schweißperlen aus dem faltigen Antlitz hinweggewischt, um sich dann mit einer altväterischen Wucht zu schneuzen, daß die Tauben aus den Glockenfenstern des Münsters


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