- 319 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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Luigi Nono (1924–1990) hat sich in zwei Werken auf Hyperions Schicksalslied bezogen. In seinem Streichquartett Fragmente – Stille, an Diotima (1979–80) sind Textfragmente aus verschiedenen Werken Hölderlins in die Partitur geschrieben, wo sie allerdings lediglich den Interpreten bzw. dem Leser als Gedankenhinweis dienen sollen; an eine Rezitation ist keinesfalls gedacht. Zwei dieser Fragmente entstammen Hyperions Schicksalslied: über dem Fragment Nr. 10 (Partitur Seite 5) steht ». . . die seligen Augen. . . « und über Fragment Nr. 13 (Partitur Seite 22) ». . . in stiller ewiger Klarheit. . . « Weder eine »Vertonung« noch eine instrumentale Annäherung an den vordergründigen semantischen Sinn war hier beabsichtigt; die Bilder Hölderlins dienen der Schärfung des musikalischen, damit in einem nicht-naturalistischen Sinne auch des musikalisch-semantischen Hörens, wie es den kompositorischen Intentionen Nonos seit Ende der 1970er Jahre entspricht.

Insofern ist das zweite Beispiel eine durchaus logische Fortsetzung des ersten: es findet sich in Nonos Prometeo – Tragedia dell’ascolto (1984). Dieses »Drama des Hörens« ist ein Musiktheater ohne Szene und Aktion, ein Theater des reinen, vokalen wie instrumentalen Klanges, der, live-elektronisch transformiert, im Raum wandert und den Zuhörer einhüllt. Unter den neun Abschnitten des »Prometeo« befinden sich mehrere Klang-»Inseln«; die zweite Hälfte des dritten Abschnittes von »Prometeo« ist überschrieben »Isola seconda, b) Hölderlin« und verwendet den Text der dritten Strophe des Schicksalsliedes. Allerdings sind nur einzelne Worte und Silben verständlich, aber darauf kommt es auch nicht an. Die musikalische Ebene einer bloßen »Vertonung«, die uns in den verschiedenen Klavierliedern aus Romantik und Moderne begegnete, hat Nono weit hinter sich gelassen zugunsten einer Verklanglichung der existentiellen Befindlichkeit, die aus Hölderlins Text spricht und zu deren verbalem Verständnis dann wenige Worte schon ausreichen. Der Mensch befindet sich auf einer »Insel« inmitten vagierender, oft extrem leiser Klänge, die ihn scheinbar ziel- und sinnlos umgeben; gleichzeitig aber ist diese Mittelposition des Hörers die einzige, die ihm erlaubt, das klangliche Geschehen angemessen wahrzunehmen. »Es gibt keinen Weg, aber man muß gehen« hatte Nono einst als Inschrift an einer Klostermauer in Toledo gelesen; »es gibt keinen Weg, aber man muß hören« ist in Prometeo die kompositorische Antwort darauf. Das Insistieren auf dem Hören ist der Sinn – das mag ein Hoffnungsschimmer sein, in jedem Fall eine sehr zeitgemäße Art, Hölderlin zu verstehen.

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