- 304 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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aufgemischt ist, es erklingen aber immer noch die alten pietistischen Choräle und Intraden.

In Rufweite des frommen Böhmischen Dorfes – und von dort sehr skeptisch beobachtet – entwickelte sich in der Gründerzeit eine ganz andere musikalische Welt: Die Rixdorfer Vergnügungsmeile, das Eldorado der Berliner Kleinbürger, der Dienstmädchen und Soldaten. In einer unvorstellbaren Dichte wuchsen Vergnügungsetablissements aus dem Boden, deren zweifelhafter Ruf bis heute das Image Neuköllns prägten. Symbol für diese Kulturtradition ist das berühmte Lied »In Rixdorf is’ Musike«, das 1899 die deutsche Hitparade der meistgespielten Schlager anführte. Eine große Tradition von Unterhaltungskultur breitete sich vor uns aus, sie galt es zu entdecken. Sie reichte weit bis in die Zeit bis nach 1945 und brachte solche symbolträchtigen Blüten wie die »Capri-Fischer« von Gerhard Winkler hervor. Gerade noch akzeptabel schien es, sie als musiksoziologisches Phänomen zu untersuchen; sie aber auch als musikalisches Phänomen zu fassen und dazu das traditionelle Instrumentarium musikalischer Analyse anzuwenden, schien geradezu unsittlich: nicht, weil das Untersuchungsobjekt nicht musikalischen Formgesetzen gehorchte, sondern weil man das einfach nicht machte – es wurde fast als Entweihung des edlen Faches Musiktheorie angesehen, Schlager ernsthaft zu analysieren.

Ganz andere musikgeschichtliche, zumindest für Preußen bedeutsame Zeichen setzte die Rixdorf-Neuköllner Arbeiterbewegung, die ein umfassendes, alle Lebensbereiche einbeziehendes Kulturprogramm entwickelte: Vom Sportverein bis zum Männerchor, vom Schachklub bis zur Agitprop-Gruppe war alles reichhaltigst vertreten, inklusive der politischen Spannungen innerhalb der Arbeiterparteien. Eine genaue Analyse dieser Gegenwelt zur bürgerlichen Musikkultur vermittelt erstaunliche Ergebnisse – das bemerkenswerteste ist vielleicht, daß – zumindest bis 1918 –, abgesehen von eher geringfügigen Repertoire-Unterschieden, die Arbeiterkultur die Spiegelung der (klein-)bürgerlichen kulturellen Praxis war; alle institutionellen Ausprägungen wurden übernommen – nur die politischen Vorzeichen und die Rezipienten waren andere. Auch die Quellenlage differiert: Entscheidende Quelle über Aufführungspraxis und Repertoire sind nicht die üblichen Archive und Rezensionen, sondern die Polizeiakten, die umfangreiche Spitzelberichte enthalten, und Zensurexemplare. Und Neukölln ist wiederum eine Fundstelle für Gender studies: Waren in den großen Arbeiterchören weibliche Wesen bislang nur erwünscht bei Festen und Ausflügen, so wurde 1911 der erste Berliner Frauenchor als »Seitenast« des »Rixdorfer Männerchores« gegründet – mit 130 singenden Frauen ein stattliches Ensemble. In den folgenden zwei Jahren wurden weitere 18 Frauenchöre in Berlin gegründet, eine


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