- 177 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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Weggeschossen, weggesprengt werden durch die Gewalt des Sektkorkenöffnungsschusses, leicht identifizierbar mit folkloristischen Elementen auf der linken Seite (vom Betrachter her) »der« Russe, rechts »der« Franzose. (»Jeder Schuß ein Ruß’, jeder Stoß ein Franzos . . . « heißt es im zurecht seiner Brutalität wegen nachhaltig berühmt-berüchtigten Gedicht der Zeit von Ernst Lissauer.) Der Schnurrbart des Franzosen folgt noch der Manier des verwichenen Napoleon III.; ob die Hakennase auf diesen oder, antisemitisch, auf »den« Juden verweist, muß offenbleiben. Ebenso die Frage, wer genau mit dem in der Mitte gemeint ist: vorstehende Zähne und schmaler langer Schnurrbart nach oben verweisen auf Japaner, obwohl eigentlich ein Engländer hier als europäischer Hauptfeind auftreten müßte. Die feindlichen Fremden taumeln, während die Waffenbrüder fest auf dem Boden stehen – wenn auch, wie sich in der Realität rasch zeigte, nicht auf dem der Tatsachen.

Phallische Konnotationen hat bereits die Gestaltung des Sektkorkens und geradezu überdeutlich der ejakulative Erguß nach der Öffnung der Flasche. Daß es martialisch-humoristisch »Deutscher Sekt Marke Brummer« heißt, zeugt von jenem dominant männlichen Stammtisch-Humor, den Karl Kraus als »Hamur« zu Recht haßte. Seine analen Akzente – und damit im Wortsinn natürlich auch klanglichen – Komponenten sind hier unüberhörbar. Im aufspritzenden Schaum heißt es: »So schiessen wir im neuen / Jahr! Viktoria!«; letzteres heute als Name so altmodisch wie das Wort – wenn schon, würde es »Victory« heißen.

Der Soundtrack ist trotz der begrenzten Kunst des Graphikers bildkräftig in Szene gesetzt. Wir hören förmlich die Explosion. Sie wird durch die vielen weißen Streifen bzw. besser Pfeile nach oben – eine nicht-naturalistische Abbildung der Sektflaschenöffnung – noch verstärkt. Und wir hören mindestens zwei der drei ausländischen, fremden Opfer des Schießens schreien, panisch zumal der Mittlere, während der Franzose nur entsetzt zu schauen scheint. Österreicher und Deutscher dagegen reden, lächelnd öffnen sie den Mund – vermutlich kommt eine Floskel heraus.

Hilflos, naiv, wenig sorgsam auf die Korrelation von Anlaß, Text und Bild bedacht ist der Schreibtext, per Stempel datiert auf den 1. 1. 1915, der zur Kategorie des Ausgerechnet! zählt: ». . . Ich bedaure sehr über den Verlust ihres Bruder. Ich konduliere noch nachträglich.« Es heißt im Buch wirklich so, und das schwer vermeidliche dreimalige Sic! muß sich angesichts der sonstigen Sorgfalt des Herausgebers auf den Schreiber (keine Schreiberin; ich setze das wegen des ganzen Kontexts voraus) beziehen.

Coole Zur-Kenntnisnahme von »Kollateralschäden« (einschließlich des Mangels an Vermittlung von sprachlicher wie Herzensbildung zugunsten von Rüstungsausgaben) oder Siegesgebrüll in den Mündern und Medien der Mächtigen, der Herrschenden wie der Regierenden, der Unternehmer wie der Militärs sowie der Präsidenten, Kanzler, »Verteidigungsminister«, wie sie in manchen Staaten


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