- 119 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben 
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Kultur mit all ihren einzelnen Phänomenen getroffen hat. Dazu gehört der Frieden als ein Segment. Es sei nicht verschwiegen, daß das musikalische Material gerade durch seine Sprachlosigkeit einem schnellen Erkenntniszugriff Widerstand leistet. Das Problem der Musikwissenschaft mit der Hermeneutik liegt hierin begründet.

Musikwissenschaft, die sich nicht allein darauf zurückzieht, Musik zu verstehen, sondern einen Beitrag dazu leisten will, Kultur zu verstehen, kann das auf eine historische und eine aktualisierende Weise tun:

Als historische Disziplin kann sie sich am interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Dialog beteiligen und mindestens auf die Anfragen aus anderen Fachdisziplinen eingehen. Dazu kann sie die gültigen musikwissenschaftlichen Methoden heranziehen, und dazu gehört immer noch eine wissenschaftlich fundiert betriebene Hermeneutik. Es kann nicht sein, daß man aus Angst vor nicht hinreichend positivistischen Erkenntnissen ganze Fragestellungen unbeantwortet läßt. Das entspricht jedenfalls nicht der geisteswissenschaftlichen Tradition. Die Musik kann als nicht-wortsprachliche Quelle Erkenntnisse über die Vorstellung vom Frieden zutage fördern, die anderen Kommunikationsformen verborgen bleiben.

Wenn man aufzeigt, wie unterschiedlich der Engländer Vaughan Williams und der Schweizer Frank Martin musikalisch auf das Kriegsende 1945 reagiert haben, dann kann man darin zwei Friedensvorstellungen erkennen, die sich im musikalischen Kunstwerk niedergeschlagen haben. Die eine Vorstellung ist verstehbar, aber letztlich rückwärts gewandt, sie entspricht dem Kunstverständnis der Frühen Neuzeit. Frank Martin dagegen repräsentiert das Kunstverständnis unserer Zeit, wo der Künstler individuelle Sichtweisen gesellschaftlicher Probleme thematisiert und mit den seiner Kunst eigenen Mitteln zum Ausdruck bringt.

Martins Komposition zeigt aber nicht nur, wie Frieden in der historischen Perspektive 1945 gesehen wurde. Sie weist schon auf eine aktualisierende Weise des Kultur-Verstehens. Lassen Sie mich drei Aspekte dieser aktualisierenden Kultur-Perspektive abschließend kurz aufzeigen:

Erstens werden in unserer Zeit immer wieder Auftragswerke für Anlässe des Friedens vergeben. Hierin zeigt sich, daß der Musik zugetraut wird, einen eigenständigen, nur in Musik ausdrückbaren Kommentar zu diesem Kulturphänomen zu leisten. Und sicher kann Frank Martins Oratorium in dieser Weise verstanden werden. Denn sein Verständnis von Frieden ist bisher kaum eingelöst worden, schon gar nicht in den vielen Konfliktregionen der Erde. Entsprechend sind auch Brittens War Requiem und Pendereckis Hiroshima-Komposition und viele neuere Werke originäre Äußerungen zur Friedensproblematik in unserer Zeit. Die


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