Kultur mit all ihren einzelnen Phänomenen getroffen hat. Dazu gehört der
Frieden als ein Segment. Es sei nicht verschwiegen, daß das musikalische Material
gerade durch seine Sprachlosigkeit einem schnellen Erkenntniszugriff Widerstand
leistet. Das Problem der Musikwissenschaft mit der Hermeneutik liegt hierin
begründet.
Musikwissenschaft, die sich nicht allein darauf zurückzieht, Musik zu verstehen, sondern
einen Beitrag dazu leisten will, Kultur zu verstehen, kann das auf eine historische und
eine aktualisierende Weise tun:
Als historische Disziplin kann sie sich am interdisziplinären kulturwissenschaftlichen
Dialog beteiligen und mindestens auf die Anfragen aus anderen Fachdisziplinen eingehen.
Dazu kann sie die gültigen musikwissenschaftlichen Methoden heranziehen, und dazu
gehört immer noch eine wissenschaftlich fundiert betriebene Hermeneutik. Es kann nicht
sein, daß man aus Angst vor nicht hinreichend positivistischen Erkenntnissen
ganze Fragestellungen unbeantwortet läßt. Das entspricht jedenfalls nicht der
geisteswissenschaftlichen Tradition. Die Musik kann als nicht-wortsprachliche Quelle
Erkenntnisse über die Vorstellung vom Frieden zutage fördern, die anderen
Kommunikationsformen verborgen bleiben.
Wenn man aufzeigt, wie unterschiedlich der Engländer Vaughan Williams und der
Schweizer Frank Martin musikalisch auf das Kriegsende 1945 reagiert haben, dann kann
man darin zwei Friedensvorstellungen erkennen, die sich im musikalischen Kunstwerk
niedergeschlagen haben. Die eine Vorstellung ist verstehbar, aber letztlich rückwärts
gewandt, sie entspricht dem Kunstverständnis der Frühen Neuzeit. Frank Martin
dagegen repräsentiert das Kunstverständnis unserer Zeit, wo der Künstler individuelle
Sichtweisen gesellschaftlicher Probleme thematisiert und mit den seiner Kunst eigenen
Mitteln zum Ausdruck bringt.
Martins Komposition zeigt aber nicht nur, wie Frieden in der historischen Perspektive 1945
gesehen wurde. Sie weist schon auf eine aktualisierende Weise des Kultur-Verstehens.
Lassen Sie mich drei Aspekte dieser aktualisierenden Kultur-Perspektive abschließend
kurz aufzeigen:
Erstens werden in unserer Zeit immer wieder Auftragswerke für Anlässe des Friedens
vergeben. Hierin zeigt sich, daß der Musik zugetraut wird, einen eigenständigen, nur in
Musik ausdrückbaren Kommentar zu diesem Kulturphänomen zu leisten. Und sicher
kann Frank Martins Oratorium in dieser Weise verstanden werden. Denn sein
Verständnis von Frieden ist bisher kaum eingelöst worden, schon gar nicht in den vielen
Konfliktregionen der Erde. Entsprechend sind auch Brittens War Requiem und
Pendereckis Hiroshima-Komposition und viele neuere Werke originäre Äußerungen zur
Friedensproblematik in unserer Zeit. Die