- 415 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Diese Tabuisierung eines öffentlichen Glaubensbekenntnisses mag mit der besonderen Situation in ihrer Familie zusammenhängen. Zwar hätte Moses Mendelssohn vielleicht Freude daran gehabt, unter seinen Nachkommen das von ihm postulierte tolerante Miteinander verschiedener Religionen realisiert zu sehen, aber es zeigte sich, daß die multikulturelle Gemeinschaft der Großfamilie Mendelssohn erhebliche Probleme in der Ausübung dieser Toleranz hatte. So wurde – aus Rücksicht auf die Großmutter mütterlicherseits, Bella Salomon, die strenggläubige Jüdin war – die Taufe der Mendelssohn-Kinder und die Konversion der Eltern im Jahre 1822 in Frankfurt geheimgehalten; außerdem fürchtete man den Fanatismus der zum Katholizismus übergetretenen Tanten Henriette und Dorothea und hielt sich vor allem von deren emanzipatorischen Ideen fern; und schließlich brachte Fannys Ehe mit Wilhelm Hensel die Bekanntschaft mit dem Pietismus in die Familie.


Fanny fühlte sich verpflichtet und trug dazu bei, trotz aller Differenzen innerhalb des Familien-Clans nach außen hin den Eindruck einer integren und stabilen Familiengemeinschaft zu demonstrieren. Offenbar bildete ihr diese – wenn auch nur scheinbare – familiäre Geschlossenheit Schutz und Refugium.


Trotzdem bleibt die Dichotomie traditioneller und progressiver Komponenten in ihren Werken der 30er Jahre, aber auch im Klavierzyklus aus dem Jahre 1841 und vielen anderen Kompositionen – vor allem den Kammermusikwerken – bestehen und vermittelt einen weiteren Aspekt der künstlerischen Persönlichkeit Fannys. Eigentlich war es selbstverständlich, daß sie als junge Komponistin auch die zeitgenössischen Strömungen in der Musik wahrnahm und aufnahm. Daß sie sie aber zu neuen Wegen musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten führen konnte, mag sie selbst überrascht, vielleicht auch verängstigt haben. Denn ihre protestantisch geprägte Disziplin, wahrscheinlich auch die Prädominanz ihres Vaters und Zelters in künstlerischen Fragen verdrängten offenbar ihr Bedürfnis nach persönlicher Selbstverwirklichung in ihrer Musik. Dieses Sich-Zurückneh­men, der Verzicht mögen typisch weibliche Charaktermerkmale sein, die in der Frauen- und Genderforschung gern als Reaktion auf Unterdrückungsmechanismen der Frauen reklamiert werden. Nimmt man aber die zahlreichen Brief- und Tagebuchnotizen wörtlich, so scheint Fanny die Benachteiligungen ihrer Person durch eine durchweg positiv gewendete Reaktion verarbeitet zu haben. Weder das Bild ihrer Persönlichkeit, das uns aus ihren Aufzeichnungen und denen ihrer Familie und Freunde überliefert wird, noch der insgesamt einheitliche Duktus ihrer Musik weisen auf eine Gebrochenheit hin. Ihrer Musik ist ein Moment des Aufbruchs eigen, nicht aber eines der Zerbrochenheit. Aufbruch und Zügelung der Leidenschaft zeichnen ihre Musik aus; und gerade dieses nicht aufgelöste, dieses nicht verschmolzene Nebeneinander macht m. E. ihre Musik so herausragend.



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