- 362 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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architektonische Grundriß einer Oper verloren, doch es wäre zwecklos, diesen in einem wöchentlich ein bis zwei Stunden umfassenden Musikunterricht vermitteln zu wollen.


Im Anschluß an einer Unterrichtsreihe wäre der tiefgreifende Wandel in der musikalischen Ästhetik zu behandeln, die das Erstarken des Bürgertums ab 1750 mit sich brachte. Der Begriff der „Nachahmung“, der die Grundlage der Affektenlehre bildete, wurde in Frage gestellt und als unschöpferisch gebrandmarkt. Die innere Empfindung wurde zum Maß aller Dinge, sie konnte kraft ihrer selbst ausgedrückt und ohne Bindung an einen vorgegebenen Affekt vom Publikum erfühlt werden. Die Vokalmusik verlor ihre führende Stellung. Man glaubte, in der Instrumentalmusik das ideale Medium gefunden zu haben, um Gefühle ohne starre Bindung an einzelne Affekte musikalisch umsetzen zu können. Das Zeitalter der Empfindsamkeit machte die Rührung durch die Musik zum eigentlichen Ziel, und weniger die Nachahmung oder Darstellung von Dingen, Bewegungen und Gefühlen. Das Natürliche, Gute und Schöne setzte sich nun als ästhetisches Ideal durch. Alles Übertriebene, Bizarre und Gekünstelte sollte abgelegt werden. Anstelle der Kastratenstimme setzte der Komponist die Frauenstimme, da das „gute“ Weibliche nun mit Natur und Schlichtheit assoziiert wurde. „Man muß die Oper wieder zur Natur zurückkehren lassen“, verlangte der französische Philosoph Jean d’Alembert. Die Opera seria mit ihren festgesetzten Bewegungsabläufen und formalen Gesetzmäßigkeiten schien nicht mehr zeitgemäß. Jean-Jacques Rousseau fand Gestik und Ausdrucksart der Sängerinnen und Sänger zu gekünstelt und zu Übertreibungen neigend:


Man sieht die Darstellerinnen mit Heftigkeit Seufzer aus ihren Lungen hervorstoßen, die geballten Fäuste gegen die Brust gepreßt, den Kopf nach hinten gelegt, das Gesicht glühend, die Adern geschwollen, den Leib keuchend; man weiß nicht, ob der Eindruck auf das Auge oder das Ohr unangenehmer ist. Ihre Anstrengungen rufen bei denen, die sie ansehen, ebensolche Qualen hervor, wie ihre Gesänge bei denen, die sie hören6

6 Zit. bei Werner Felix, Christoph Willibald Gluck, Leipzig 1965.

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In seinem Musiklexikon von 1768 lobt er den natürlichen Gesang (chant naturel) und setzt ihn vom „chant baroque“ ab. Es war somit nur eine Frage der Zeit, bis das Opernwesen einer gründlichen Kritik unterzogen wurde. Christoph Willibald Gluck (1714–1787) leitete die Veränderungen ein, die dann von Mozart und anderen aufgegriffen und weiter entwickelt wurden.


Zu warnen wäre allerdings vor der Gegenüberstellung einer überholten, starren Barock- und einer humaneren Aufklärungsästhetik. Musikgeschichtliche Abhandlungen tendieren gerne dazu, bei der Beschreibung von Epochen das Vorangegangne pejorativ abzugrenzen. Obwohl Glucks Neuerungen als Verbesserungen angesehen werden können, wäre es gefährlich, die Barockoper als überlebt


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