- 100 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Aus der Verbindung von Aufklärung und naturwissenschaftlich-technischer Entwicklung erwuchsen im 19. Jahrhundert Fortschrittsglaube mit Heilsversprechungen in den Ausprägungen des Kapitalismus, Neoliberalismus, Kommunismus.


Diese Paradigmen als Sinngeber des Lebens zerbrechen. Das ist die Situation der Postmoderne. Wie soll sich der Mensch orientieren, der sein Leben gestalten will und keine Beziehungspunkte und Leitideen auf Zukunft hin findet? Wir können täglich Trends an uns selbst und anderen beobachten als Charakteristika der Postmoderne.


Die Welt des Objektiven, die für die Moderne – erst recht für das Mittelalter und die Renaissance – bestimmend war, wird abgelöst durch den Kult des Subjekts. Achten Sie auf die Wörter mit der Silbe „selbst“: Selbstverwirklichung, Selbstbeobachtung, Selbsterfahrung, Selbstkontrolle, Selbstbestimmung. Für die Musik bedeutet das: Dem objektivierbaren Musikstück wird das subjektive Musik­erlebnis als alleiniger Maßstab entgegen gehalten. „Was empfindest du?“ „Ich empfinde aber...“ „Na gut.“ Ende. Das Hören des Musikstücks als Erweiterung und Veränderung meiner „Empfindung“, als Vertiefung von Emotionen, als Ahnung von Gesetzmäßigkeiten, die nicht verbalisiert werden können ist lästig. Eine Lehrerin sagte mir: „Ich brauche Ihre Hörpartitur nicht. Die bringt mich nur von meinen Empfindungen weg. Meine Kinder brauchen keinen Musikunterricht. Die sollen sich wohl fühlen.“ So wird der subjekt-bezogene Musikgebrauch der Erwachsenen zum Schicksal für die Kinder.


Der postmoderne Mensch lebt dem Augenblick. Man nennt das seit etwa acht Jahren „Erlebnis“. Die Erlebnisgesellschaft bewegt sich von einem Event zum nächsten Happening: „Machen Sie Ihre Reise, Ihr Frühstück, Ihren Einkauf, Ihren Konzertbesuch zu einem Erlebnis.“ Der Wechsel der Eindrücke wird zum Lebenssinn. Verweilen, sich einer Sache, einem Vorgang wie der Musik hingeben, ist langweilig. Deshalb ist die „Klassische Musik“ für den postmodernen Menschen „schwer“.


Postmoderne Kinder und Erwachsene möchten einen leichten Genuß: „I like Genuß – sofort“. Bitte keine Beanspruchung durch Gedanken oder tiefere Gefühle! Mancher „E-Musik“-Produzent läßt sich darauf ein und verspricht gefällige Musikprogramme. Aber was ist „leichte Musik“, wenn man nie erfahren konnte, was anspruchsvolle Musik ist? Der postmoderne Mensch erfährt die zahlreichen sehr unterschiedlichen Kultur- und Musikangebote als gleich gültig. Er könnte auswählen, aber er hört die Unterschiede nicht. Da er keine Wertmaßstäbe gewinnen konnte, ist ihm aller Unterschied „Wurscht“. Es ist ihm wirklich alles gleichgültig. Denken Sie an den vagabundierenden Musikinteressenten – und seine Chancen, wenn wir ihm helfen.



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