- 33 -Kietz, Nicola: Musikverstehen und Sprachverstehen 
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Die genannten Besonderheiten musikalischer Syntax sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch sie eine durch das Linearitäts- und Hierarchieprinzip vertretene, sprachähnliche Regelhaftigkeit

Problematisch ist sicherlich, daß einige musikalische Stile des 20. Jahrhunderts (z.B. die Aleatorik) keine derartigen Regelhaftigkeiten aufweisen. Eine interessante, den weiteren Kapiteln vorgreifende Frage wäre in diesem Zusammenhang, ob die schwierige Nachvollziehbarkeit solcher Musik mit eben jener Regellosigkeit zusammenhängt. In Kapitel 4.4 komme ich genauer darauf zurück.

aufweist, die es ermöglicht, unendlich viele neue musikalische Sequenzen hervorzubringen. Selbstverständlich sind diese Gesetzmäßigkeiten von sich relativ schnell wandelnden musikalischen Stilen abhängig, so daß beispielsweise das tonale Prinzip der Wiener Klassik auf gänzlich anderen Regularitäten fußt als die Zwölftonmusik Schönbergs. Im ersten Fall garantiert - im Gegensatz zum zweiten - u.a. eine harmonisch-syntaktische Komponente, daß sich bei der Verknüpfung von musikalischen Einheiten durch den Bezug auf ein tonales Zentrum funktionale Bedeutungsaspekte ergeben. Dies ist in dem Sinne gemeint, daß in G-Dur die Folge c-e-g -> d-fis-a -> g-h-d eine andere Funktion (authentische Kadenz) und damit eine andere Bedeutung (Zäsur/Abschluß) besitzt als die gleiche Akkord-Folge mit e-g-h als letztem Akkord (= Trugschluß).
Auf der einen Seite gibt es also eine standardisierte Norm (Kadenz) und auf der anderen die Abweichung, die man auch als paradigmatische Variante bezeichnen könnte. Dieses Spannungsverhältnis ist insofern bedeutsam, als es wichtige Grundlage für die Entstehung ästhetischer Qualitäten von musikalischen (und manchmal sprachlichen) Gebilden ist (s. Gruhn 1989, S. 74). Eco schreibt dazu:

"Die ästhetische Mitteilung verwirklicht sich, indem sie gegen die Norm verstößt." ("Il messaggio estetico [...] si attua nella l'offendere la norma" Umberto Eco zitiert nach Ingmar Bengtsson 1973, S. 31)

Normen sind dabei zu definieren als ideale, invariante Grundstrukturen eines bestimmten Stils oder Genres.
An dieser Stelle wird deutlich, welche guten Dienste das Modell der gTG von Chomsky leisten könnte. Das standardisierte syntaktische Idiom eines Stils könnte der (wenn auch nicht durchgängig semantisch fundierten) Tiefenstruktur entsprechen, aus der die mehr oder weniger abweichende Oberflächenstruktur des individuellen musikalischen Textes abgeleitet werden kann. Die ästhetische Qualität wäre somit als Ausmaß der Irregularität bzw.


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