- 60 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Ernst Cassirer: Form und Technik


Technik – sie ist ihr vielmehr durch eine besondere Situation, durch eine konkrete geschichtliche Lage abgenötigt und aufgedrungen.1) Aber nachdem einmal diese Verflechtung eingetreten ist, läßt sie sich freilich mit den Mitteln der Technik allein nicht lösen. Hier genügt es nicht, die Kräfte der Natur oder die Kräfte des bloßen Verstandes, des technischen und wissenschaftlichen Intellekts, aufzurufen; sondern hier stehen wir an dem Punkte, an dem nur der Einsatz neuer Willenskräfte wahrhaft Wandel schaffen kann. In diesem Aufbau des Reiches des Willens und der Grundgesinnung, auf der alle sittliche Gemeinschaft ruht, kann die Technik immer nur Dienerin, nicht Führerin sein. Sie kann die Ziele nicht von sich aus stellen, wenngleich sie an ihrer Verrichtung mitarbeiten kann und soll; sie versteht ihren eigenen Sinn und ihr eigenes Telos am besten, wenn sie sich dahin bescheidet, daß sie niemals Selbstzweck sein kann, sondern sich einem andern “Reich der Zwecke”, daß sie sich jener echten und endgültigen Teleologie einzuordnen hat, die Kant als Ethiko-Teleologie bezeichnet. In diesem Sinne bildet die “Entmaterialisierung”, die Ethisierung der Technik, eines der Zentralprobleme unserer gegenwärtigen Kultur.2) Sowenig die Technik, aus sich und ihrem eigenen Kreis heraus unmittelbar ethische Werte erschaffen kann, sowenig besteht eine Entfremdung und ein Widerstreit zwischen diesen Werten und ihrer spezifischen Richtung und Grundgesinnung. Denn die Technik steht unter der Herrschaft des "Sachdienstgedankens”, unter dem Ideal einer Solidarität der Arbeit, in der zuletzt alle für einen und einer für alle wirkt. Sie schafft, noch vor der wahrhaft freien Willensgemeinschaft, eine Art von Schicksalsgemeinschaft zwischen all denen, die an ihrem Werke tätig sind. So kann man mit Recht als den impliziten Sinn technischer Arbeit und technischer Kultur den Gedanken der “Freiheit durch Dienstbarkeit” bezeichnen.3) Soll dieser Gedanke sich wahrhaft auswirken, so ist freilich erforderlich, daß er mehr und mehr seinen impliziten Sinn in einen expliziten verwandelt: daß das, was

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1) Über die notwendige Sonderung des Geistes der Technik vom Geist der kapitalistischen Wirtschaft vgl., außer den Schriften Rathenaus, bes.die Bemerkungen von Zschimmer (a.a.O. S. 154ff.) und Dessauer (a.a.O. S. 113ff.).

2) Das Problem dieser “Ethisierung” ist mit Recht in den Mittelpunkt gerückt worden von Viktor Engelhardt, Weltanschauung und Technik, Leipzig 1922, bes.S.63 ff. und von Condenhove-Kalergi, Apologie der Technik, Leipzig 1922, S.10ff.

3) Dessauer, a.a.O. S. 86; vgl.bes. S. 131ff.


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