- 433 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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offenbar im Zuge einer ihr eigenen Gesetzlichkeit erfüllt und die der künstlerischen Form durch sie zwangsläufig bedingt wird, begegnet jener andere Vorgang der dadurch hervorgerufenen Veränderung oder vielmehr Erweiterung des Publikums viel größeren Schwierigkeiten und Gefahren, zumal in den Ländern, deren geistige Tradition entstanden ist durch die mehr oder minder bewußte Abgrenzung einer kulturell führenden Schicht gegen die breite Masse. Dies aber ist die Situation in Europa, die bei aller Differenziertheit in den verschiedenen Ländern im ganzen doch einheitlich ist. Hier sind auch die eigentlichen Gründe dafür zu suchen, daß zum Beispiel der europäische Film gegenüber dem amerikanischen und russischen versagt hat. Wir sind weniger als diese andern Völker auf die geistige Demokratie vorbereitet, die sich zwangsläufig aus der Technisierung ergibt. Bei uns ist auf das schärfste ausgeprägt ein Gegensatz zwischen einer geistig führenden Schicht, die ihre geschichtlichen Kunstwerte im Laufe der Tradition des neunzehnten Jahrhunderts ausgebildet hat, und der breiten Masse. Das tritt auf verschiedenen Gebieten ganz deutlich in Erscheinung. Wie im Film, so haben wir auch in der Musik nichts aufzuweisen, was sich in der Ebene einer auf breitestem Umfang gegebenen Wirksamkeit als wertvoll erweist wie zum Beispiel in gewissem Sinne die amerikanische Volkstanzmusik: der Jazz.


Die Technisierung zielt soziologisch auf die kulturelle Einheit der von ihr erfaßten Massen. Wo in dieser Hinsicht eine so ausgesprochene Zersplitterung herrscht wie in Deutschland, wo unvereinbare Gegensätze vorhanden sind, wie etwa solche des Geschmacks der Besucher von Lehars Operette “Friederike” und der Freunde neuer Opernmusik, da ist die Lage zweifellos ganz besonders schwierig.


Hier, in dieser Thematik, liegen, wie mir scheint, die bedeutsamsten und folgenreichsten Probleme, die sich als Konsequenz der Technisierung ergeben. Sie betreffen ebenso wie den kunstaufnehmenden Menschen natürlich auch den kunstproduzierenden. Abgesehen davon, daß er durch die Technisierung, wie oben gekennzeichnet, in eine äußerlich neue Situation gekommen ist, haben sich auch die eigentlichen Bedingungen seines Schaffens noch in einem andern Sinne in einer Weise verändert, die möglicherweise verhängnisvoll sein kann. Der geschäftliche Charakter der technisierten Unternehmungen bringt es mit sich, daß die Beziehung zwischen dem Schaffenden und den Aufnehmenden eine grundsätzlich andere geworden ist. Im Film, im Tonfilm, im


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