- 300 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Kulturboden vorstoßen. Der Besiegte wurde immer mächtiger und schließlich, wenn auch nicht Herrscher, so doch gleichberechtigter Mitregent. Mag die Filmindustrie teilweise noch immer von amusischen Gesichtspunkten beherrscht werden, mag auch hier die Überstürzung der Neuerungen immer wieder, wie in jüngster Zeit durch den Tonfilm, verwirrend eingreifen, wir können heute nicht mehr bestreiten, was die Gegner des Films noch vor kurzem wagten, daß es eine Filmkunst und einen besonderen Filmstil gibt. Wir werden uns mit dem letzteren, aus dem Umstand, daß hier Verwandtschaften zum Radio bestehen, noch zu beschäftigen haben.


Zunächst drängen sich uns andere Fragen auf. Es gibt heute auch auf dem Theater, in der erzählenden Literatur, ja sogar in der Musik Dinge, die wir nicht anders benennen können als mit dem Worte “filmhaft”. Hier greifen eine Reihe von Faktoren ineinander: zunächst das Novellistische im altitalienischen Sinne des immer neu sich gebärenden und verwandelnden Stofflichen, ferner die Pantomime, der Körperausdruck an Stelle des alleinherrschenden Wortes, endlich die Auflösung der Linie in das Mosaik kleiner, bunter, vielfach jäh abwechselnder und kontrastierender Episoden. Nun beklagt z.B. mitunter der Literarhistoriker, daß es keine großaufgebauten Akte im Drama mehr gäbe, mit ihrer Wahrung von Zeit und Ort, ohne allerdings dabei zu bedenken, daß dieser Typus der Dramatik nicht der einzige, sondern lediglich der von den Griechen übernommene ist, daß im Grunde zwischen der dramatischen Form Shakespeares und der unserer filmbeeinflußten Gegenwart kein allzu großer Unterschied besteht. Und, um bei Shakespeare zu verweilen, steht er wirklich dem Reportagehaften des Filmischen so sehr fern?  Ist die stoffliche Überraschung nicht eines seiner entscheidendsten Ausdrucksmittel? Was durch die Geschichte legitim geworden ist, braucht uns aber bekanntlich keine schlaflosen Nächte mehr zu bereiten. Wir kommen also zu der für uns wichtigen Kernfrage. Ist das, was wir heute filmhaft nennen, tatsächlich in unserer Gesamtkunst nur dadurch entstanden, daß zufällig die Kinematographie erfunden wurde? Gehen wir noch einen Schritt weiter und betrachten wir die stilisierenden Kräfte, die in dem Wesen des auf die Fläche produzierten Schwarz-Weiß liegen! Sind alle die hier aufgezählten Elemente nicht aus den natürlichen Reaktionen, die der Kunstentwicklung des 19. Jahrhunderts folgen mußten, für den Tieferschauenden zwangsläufig bestimmt? Wenn also hier die Materie den


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