- 171 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
  Erste Seite (1) Vorherige Seite (170)Nächste Seite (172) Letzte Seite (464)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 



Gegenwartsmensch besonderen inneren Anteil nimmt, stattfindet. Der einzelne wird durch die gänzlich neue lebendige Rundfunk-Berichterstattung in den Strom des Lebens auch dann hineingerissen, wenn es sich in weiter Entfernung abspielt“ 1) usw. Angesichts solcher kollektivistisch-technischen Hymnen glaubt man die Zeit erfüllt, von der der große Kulturhistoriker Burckhardt 2) in launigen Prophezeiungen sprach: “Es wird dahin kommen mit den Menschen, daß sie anfangen zu heulen, wenn ihrer nicht wenigstens hundert beisammen sind“, oder: “Sie opfern, wenn es sein muß, alle ihre speziellen Literaturen und Kulturen gegen durchgehende Nachtzüge auf.“


Aber die Erscheinung hat ihre ernste Seite: Die großen Möglichkeiten, die eine Erfindung von solcher Bedeutung auftun könnte, wenn man sie richtig in das vorhandene Weltbild einordnen würde, werden zerstört, wenn man sie überstürzt ausbeutet, das heißt in den Dienst banalen Nützlichkeitswesens stellt. Daß die mechanische Musik nicht nur die maschinell übertragene, sondern auch die unendlich wichtigere, weil produktive, maschinell erzeugte Musik einbegreift, ist dem allgemeinen Bewußtsein schon kaum mehr gegenwärtig. Unvergeßlich bezeichnend aber ist die Art, wie dann von Zeit zu Zeit das Rätsel maschinell erzeugter Musik in der Öffentlichkeit profaniert wird.


Wen hätte nicht das unerwartet Unheimliche bezaubert, als Theremin seine Ätherwellenmusik vorführte? War es nicht wie in einem Märchen aus “Tausendundeiner Nacht”, als er mit beschwörenden Gebärden seiner Hände den “Geist aus der Flasche” rief und ihn zwang, laut und leise, hoch und tief zu tönen? Wurde nicht erschütternd deutlich, daß wir in das kleine Bereich unserer Sinne eingeschlossen sind wie in einer Nuß, als er den Ton über die Grenzen unseres Gehörs führte, ohne daß doch anzunehmen war, daß die Erzeugung des Tones an sich aufhöre?


Aber dieser Eindruck schien ihm nicht zu genügen: der Geist war bereits dressiert, und schon mußte er zu einer mittelmäßigen Klavierbegleitung Schubert-Lieder singen, der Unglückliche. Denn da ihm feste Tonhöhe nicht gegeben war, blieb ihm nichts übrig, als in schauerlichem Portamento die Sprünge zu wagen, die die Melodie ihm vorschrieb: Technik im Dienste der Kultur! —

__________

1) Magnus, Arch.f.Funkr., Bd.1. S.6 u.9 ff.

2) Briefe an Preen, S.130


Erste Seite (1) Vorherige Seite (170)Nächste Seite (172) Letzte Seite (464)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 171 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik