- 68 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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etabliert eine existentielle menschliche Grundsituation: die Bestreitung der eigenen Existenz durch Naturgewalt.

Felsenstein übersetzt diese Intention des Komponisten in folgende szenische Vorgänge: in Takt 57 (Buchstabe E) ändern sich die Bewegungsvorgänge des Chores. Während er vorher im Kontext des Unwetters die Schlacht beobachtete, kniet der Chor an dieser Stelle und hebt, teilweise abwehrend, teilweise betend, die Arme. Verstärkt wird diese neue szenische Situation im Opernfilm durch die Einstellungsperspektive. Nahm die Kamera den Chor vorher aus Augenhöhe des – imaginären – Theaterpublikums auf, wechselt nun die Perspektive drastisch zur totalen Aufsicht auf die knieenden Menschen. Dazu bemerkt G.Mielke, der Kameramann dieser Filmproduktion:

»Die Kamera blickt von oben auf ein ängstlich zusammengeschartes Häuflein von Menschen, die abwehrend die Arme emporstrecken. [...] Mit dem nächsten Schrei und den entsprechenden Sechzehnteln im Orchester schwebt die Kamera hinüber zu einer dritten Menschengruppe, um sich mit der abfallenden Melodie ›[...] sie brennen und vergehn in tiefes Dunkel ...‹ – bedrohlich wie das Unheil selber auf die Gesichter hinabzustürzen.«46

46
Mielke, G.: Musik im Fernsehen. In: Musik und Gesellschaft 3/1970

Um glaubhaft die von Verdi intendierte Steigerung der Szene in die oben beschriebene existenzielle Dimension zu bewerkstelligen, ist es nötig, die physische Betroffenheit der Menschen durch die Situation, in der sie sich befinden, szenische Realität werden zu lassen. Weil die Musik nicht nur das Unwetter erklingen lässt und der Chor mehr oder weniger getrennt davon per Mauerschau sein Miterleben der Schlacht darstellt sondern der in der Musik erklingende Einschlag eines Blitzes oder die Kraft einer Orkanböe durch die körperliche Reaktion des Chores sichtbar wird, kann die Musik ihre die Szene bestimmende Kraft entfesseln.

Felsenstein gelingt es so, das Doppelte der Musik zu realisieren: erstens ist sie das Medium, in dem sich das Unwetter theatralisch-akustisch realisiert. Die Musik bedeutet Unwetter. Ihre szenische Kraft erhält sie zweitens, weil Felsenstein die Musik als wahrnehmbare Realität behandelt. Es mutet so an, als würde die Musik die Menschenmassen herumwirbeln. Darüber hinaus wird das akustische Naturbild zum Bild für den extremen inneren Zustand des Volkes, seine existenzielle Bedrohung. Musik drückt eine Empfindung, eine konkretisierte »Bewegung der Seele« aus, die der Zuschauer von dieser Musik affiziert in seinem Innern lebendig nachvollzieht. Musik geht also weder in ihrer Bedeutungsfunktion auf, noch dient sie zur reinen Gefühlssteigerung.


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