- 67 -Homann, Rainer: Die Partitur als Regiebuch 
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Gewittermusik zu identifizieren ist (Blitze durch schnelle abwärts geführte Flötenläufe oder Streicherpizzicati, einschlagende Blitze durch ff im tutti, Donner durch die Blechbläser, Sturm durch sich wiederholende Tonleiterabschnitte in Sechzehnteln). Verdi komponierte eine das akustische Phänomen Gewitter nachahmende Musik. Durch die treffende Nachahmung sowie durch die bekannte Konvention von Gewittermusiken identifiziert der Zuhörer die Musik als Gewittermusik. Vom Hin und Her der Schlacht auf dem Meer lässt Verdi den beobachtenden Chor mit dem Stilmittel der Mauerschau berichten. Die Szene, die, wie im vorherigen Kapitel gezeigt, in der Analyse K. Körtes in zwei Teile zerfällt, besteht aus zwei dramatischen Elementen, die keineswegs getrennt nebeneinander existieren: der Gewittermusik und der in der Mauerschau durch den Chor geschilderten Schlacht.

Der Komposition entsprechend bestimmen zwei Vorgänge die Szene: das Unwetter und die Beobachtung der Schlacht. Felsenstein imaginiert die Schlacht durch die Blickrichtung des Chores rechts hinter dem Publikum. Das Unwetter ist nicht nur zu hören, sondern kommt auch zur szenischen Darstellung. Der Chor muss sich gegen die Orkanböen stemmen, um den auch das eigene Schicksal bestimmenden Ausgang der Schlacht beobachten zu können. Die abrupten Blitzeinschläge wirbeln den Chor immer wieder durcheinander. Schon jetzt ist zu sehen, dass die szenische Gestalt, die Verdi vorschwebte, die beiden Elemente der Szene – Gewittermusik und Teichoskopie – integriert. Auf der konkretisierenden Ebene der Szene werden Choreinwürfe, die das Bangen des Volkes über den Ausgang der Schlacht ausdrücken, mit der Unwettermusik schon dadurch verbunden, dass der Chor sich gegen das Unwetter stemmt.

Ab Takt 42 (sieben Takte vor Buchstabe B) beginnt der Chor, nicht mehr über die Schlacht, sondern über das Unwetter zu singen: »Blitze! Donner! Strudel! Wie der Wirbelsturm die Wogen peitscht!« Endgültig fällt die Unwettermusik mit dem Chorpart in Takt 57, Buchstabe E, (»Eines Dämons Flügelschlag zerteilt die Lüfte über uns. [. . . ]«) zusammen. Das vorher noch von der menschlichen Situation (Seeschlacht) getrennte Naturereignis (Unwetter) wird zum Bild für den inneren Zustand des zypriotischen Volkes, dessen existenzielle Bedrohung. Begreift man das Geschehen nicht nur als Sorge um den Kriegsausgang, sondern erfasst auch die Qualität des Naturbildes, so lässt sich eine Überhöhung der vorher konkreten Szene zu einem apokalyptischen Bild feststellen. Entsprechend lautet der Libretto-Text: »Eines Dämons Flügelschlag zerteilt die Lüfte über uns. Bläht den Himmel wie ein düstres Segel mächtig Ah! Seht, es rauchen, seht es flammen! Schwarze Nebel wandeln sich zu Glut, sie brennen und vergehn in tiefes Dunkel! Qualvoll erbebt das Weltall! Der grause Nordwind rast und jagt Gespenster her. Die Posaunen der Titanen blasen zum Gericht.« Lärmendes Blech und äußerste Dynamik drücken Verdis Intention aus, seine Musiksprache gibt darüber Auskunft, was für eine Szene gestaltet sein sollte. (Die Erinnerung an Passagen aus dem »Dies irae« aus Verdis Requiem drängt sich auf.) Verdi schwebt eine Weltuntergangsszene vor, die aus der konkreten Handlung der Oper, nämlich der Kriegsangst des zypriotischen Volkes erwächst und in dem Unwetter eine Objektivierung finden soll. Thema der 1. Szene ist auf der Ebene der konkreten Opernhandlung der durch Othello gewonnene Krieg gegen die Türken und damit die Exposition des glänzenden Feldherrn Othello und des heimlichen intriganten Gegenspielers Jago. Die beschriebene Überhöhung dagegen


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